Ich spreche vom Hier und Jetzt
© Mohsin Taasha, Standbild aus Video "The Reds Move" (2022)*
Wenn der Wind dein Haar verweht
trotz Gottes Verbot – was will man tun?
In Kabuls Straßen vermisst man das Liebesgeflüster,
und es singt auch niemand mehr des Nachts.
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Die Kommandos turbanumhüllter Köpfe,
der Hall von Peitschenknall und Schuss,
von Wirrwarr, gemurmelten Versen, und Stuss,
tragen die Klagelaute
in Schreckensträume unter fernen Dächern.
All die ungemalten Bilder unserer Schreie,
festgenagelt
hinter geschlossenen Fenstern.
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Siebzehnjährige Jungen
Glaubten an Rettungsaktionen wie bei James Bond,
Ihre letzten Schreie vertrauten sie
unter den Flügeln militärischer Rettungsflugzeuge
dem Sturm an.
All die ungemalten Bilder unserer Schreie,
blutige Fetzen wund geschriener Kehlen
in den Gebirgszügen jenseits von Khwaja Rawash.[1]
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Die Grenzen erbeben
unter den Füßen jener, die Schutz suchen vor dem Terror der Nacht,
Und die Kugeln
ziehen inmitten des Tumults der Verzweifelten
eine neue Grenze.
Ein Vater fällt,
Eine Mutter sackt zusammen,
Kinder wimmern.
All die ungemalten Bilder unserer Schreie,
verlorene Sterne
in dunkelster Nacht.
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Alle direkten Wege
Nichts als Trugbilder, die Suchenden zu verwirren
In einer Welt, in der
Die „rechten Wege“
Noch nie zur Wahrheit führten.
Die Uhren der Welt standen still,
und die Zeitungen berichteten nichts
an diesem dunkelsten aller Tage,
Als eine Frau in den alten Gassen Kabuls skandierte:
„Not und Elend über jene, die Not und Elend brachten!“
Als ein Mann
die Überreste seiner Kinder
In den Wasserrinnen nahe dem Flugfeld suchte[2]
Und Biden eine Trauerrede hielt
für die letzten Soldaten, die hier ihr Leben ließen, in einem Krieg von zwei Jahrzehnten,
ohne Sinn.
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
In Decken gewickelte Körper,
Frauen, die aus ihren Stoffkäfigen starren,
herumirrende Schatten,
fürchten die Regierung eines Gottes, der dem Sterben zusieht, ohne Partei zu ergreifen,
Ein Gott, der das fortwährende Bitten und Flehen von Kindern in blutgetränkten Gräben
ohne Antwort lässt.
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Sieh den Sondergesandten der Yankees mit seinem afghanischen Stammbaum![3]
Wie aus einem Munde
lacht er mit dem Glaubensführer, dieser Marionette[4],
über die Katastrophe,
bis verwundete Friedenstauben
in die blutige Falle flattern, die Asiens Herz heute ist.[5]
Das Land der Verlierer ist von „Allahu-Akbar“-Gebrüll erfüllt,
Und die Hunde sind immer noch satt vom Blut frisch in den Staub gesunkener Leichen.
All die ungemalten Bilder unserer Schreie,
Trauerinschriften auf Blättern ungebeugter Bäume
inmitten der Stürme.
Wo sind Sie, werter Herr?
Wo sind Sie, werte Dame?
Aus den Lautsprechern des Palasts, dessen erstes Paar Sie waren,
dringt der Gestank der Schamlosigkeit Ihrer Lügen,
übertrifft den Schmutz jener noch, die Sie beerben.
Ich bin all die Dichterfürsten leid,
Ich bin all die Münder leid, die aufgerissen werden, je nach Größe der Prämie
für einen Lobgesang auf Leute wie Sie!
John Kerrys Republik wurde mit nur einer Stimme gewonnen,
und die während der Wahl abgehackten Finger
hielt man für das einzige Problem der afghanischen Demokratie.[6]
Ich bin mit den Geschichten über falsche Erlöser groß geworden.
In den Erzählungen meiner Mutter verteilen sie frittiertes Gebäck,
Und ihr Kot besteht aus essbaren Kugeln,
mit denen sie den Zug der Hungrigen hinter sich her locken
Ich spreche vom Hier und Jetzt,
Für dich gibt es nur Dort und Damals!
Kabul sagt der Freiheit Lebewohl –
„Adieu, Kabul!“
Ich kann meine Kleider nicht mitnehmen,
Sie riechen nach Heimat,
riechen nach der Mutter.
Ich kann meine Kleider nicht mitnehmen,
Mein Bündel ist schon schwer
vom Kummer der Freiheit.
Ich kann meine Kleider nicht mitnehmen,
Sie riechen nach den Wunden meines Geburtsortes.
Ach, standhafter Hindukusch!
Ich kann meine Kleider nicht mitnehmen,
Meinen Füßen fehlt die Kraft zum Gehen,
Traurige Sperlinge
verlernen das Fliegen.
All die ungemalten Bilder unserer Schreie,
bittere Lieder des schwersten Exils.
[1] Khwaja Rawash ist der inoffizielle, in der Bevölkerung Afghanistans gebräuchliche Name für den Hauptstadtflughafen Afghanistans, nach dem Stadtbezirk Khwaja Rawash, in dem sich der Flughafen befindet. [A.d.Ü.]
[2] Eine Anspielung auf den Selbstmordanschlag eines islamistischen Terroristen inmitten einer Menschenmenge nahe der Wasserkanäle, die sich neben dem Flugfeld des Kabuler Flughafens befinden. [A.d.A.]
[3] Gemeint ist Zalmay Khalilzad, der Friedensbotschafter der USA, der in Qatar das Friedensabkommen mit den Taliban in die Wege leitete. [A.d.A.]
[4] Bei der Bestimmung des Emirs und Anführers der Taliban, die in Quetta (Pakistan) stattfand, war die pakistanische Armee involviert. [A.d.A.]
[5] Ein Ausdruck des Dichters und Philosophen Iqbal Lahori, der Afghanistan einst „das Herz Asiens“ nannte. [A.d.A.]
[6] Anspielung auf die Wahlen 2014 in Afghanistan, bei denen es massive Unstimmigkeiten gab. Die Taliban boykottierten die Wahl damals und schnitten die Finger derjenigen ab, die sich an den Wahlen beteiligten. Am Ende wurde Ashraf Ghani, mit der Unterstützung des US-Sondergesandten John Kerry, ohne ernsthafte Untersuchung des Wahlvorgangs zum Gewinner der Wahl erklärt. [A.d.A]
* Standbild aus dem Film:
THE REDS MOVE
Jahr: 2022, Video: 03:58 min, Drehort: Tappa Shohada, Kabul Videofilmer: Jordan Bryon, Darsteller: Sorkh o Safid Theatergruppe Produzentin: Zahra Khodadadi, Musik: Farshad Akbari, Videobearbeitung: Farshad Akbari
Auflage: 5/5
Im Auftrag des Vereins Treibsand, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers