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Selbst in meinen Träumen habe ich aufgeschrien

Azizullah Ima

 

© Baqer Ahmadi, notes about my home, Mixed Media (2017)

 

Azizullah Ima und Andreas Neeser

Ein Gespräch in literarischen Miniaturen

In «Selbst in meinen Träumen habe ich aufgeschrien» führen der afghanische Exil-Autor Azizullah Ima und Andreas Neeser ein intensives und bildstarkes literarisches Gespräch, das Einblick gibt in ihre unterschiedlichen Erfahrungs- und Lebensrealitäten. Was in diesem Prozess entsteht, ist ein einladendes, zugleich fragiles und mächtiges Haus aus Wörtern – «mit Gedankenzimmern, deren Fenster offenstehen».

 

 

Azizullah Ima

Grenzen

 

Während des Übergangs erkannte ich,

dass Grenzen nicht bloß Leerstellen sind

in den Oden und Ordnungen der Menschen.

Mal sind es rote Linien, die Erblasten tyrannischer Toter,

mal undurchdringliche Wände menschlicher Freude und Trauer.

Während des Grenzübertritts sah ich die Menschen gefangen

in Geografie und Gewohnheit.

Gefangene, die über irdische Wunschträume hinaus

selbst Gott und den Himmel unterteilen

für die Träume nach dem Tod.

Während ich die Grenzen überschritt, verbarg ich meine Wunden,

denn der Pass führte Wunden nicht als Merkmalkategorie.

Als ich die Gefahr in Kauf nahm und die Grenzen überschritt, erkannte ich,

wie bedeutungslos sie sind, all diese diktierten Trennlinien.

 

 

Andreas Neeser 

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Mein Bild weist mich aus als Fassade

behördlich geprüft und vermessen

gestempelt fürs Leben

versuche ich täglich den eigenen Namen

auf Halbland

ersilbe ich nichts als ein schorfiges a oder u oder au

denn mein Analphabet

buchstabiert nur im Vorlaut

Vokabeln von Abschied und Anfang.

 

 

Azizullah Ima

Historienbild

 

Fassaden sind die Wahrheiten der Oberflächen,

Wahrheiten, die tiefere Gründe nie erreichen.

Alle Texte dieser Welt haben sich die Hände gereicht,

die wilde, blutrünstige Bestie zu brechen.

Kein heiliges Alphabet hat sie je gezähmt,

die Tiere aller Wälder dieser Welt,

keine Regeln und Richtlinien haben sie je gezähmt,

die Tiere aller Wälder dieser Welt.

 

Fassaden sind die Wahrheiten der Oberflächen,

Wahrheiten, die tiefere Gründe nie erreichen.

Auf dem großen Historienbild ohne Ende

haben die menschlichen Mythen zuweilen

ein Revers, das weder Gott noch Teufel gleicht.

 

 

Andreas Neeser

Gaukler

 

Geschichten haben keine Ränder.

Wir sind immer mittendrin

und schreiben die Geschichte fort.

 

Aber all unsre Wahrheiten

tragen die Mehrzahl

wie bunteste Mäntel

 

was sind wir für Gaukler

vernarrt und verblendet

im endlosen Spiel

 

denn die einzige Wahrheit

ist immer Gerücht

wie wir selbst.

 

Azizullah Ima

Gerücht

 

Oh, des Gerüchts Schwerter, wie sind sie schärfer!

Fünf verwundete ein Mann

gerade erst gestern in Paris

für Gottes Wohlgefallen,

für das größte Gerücht des Menschengeschlechts.

 

 

Andreas Neeser

Wie die Hunde

 

All diese haltlosen Stimmen erwittern, verfolgen wie Fährten aus Lärm und Geschrei und Getöse, tagtäglich, zurück bis zum Ursprung, denn jedes Gerücht ist ein Vorwand für Faulheit.

Wenn die Masken dann fielen – wär es gnadenlos still.

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