Selbst in meinen Träumen habe ich aufgeschrien
Azizullah Ima und Andreas Neeser
Ein Gespräch in literarischen Miniaturen
In «Selbst in meinen Träumen habe ich aufgeschrien» führen der afghanische Exil-Autor Azizullah Ima und Andreas Neeser ein intensives und bildstarkes literarisches Gespräch, das Einblick gibt in ihre unterschiedlichen Erfahrungs- und Lebensrealitäten. Was in diesem Prozess entsteht, ist ein einladendes, zugleich fragiles und mächtiges Haus aus Wörtern – «mit Gedankenzimmern, deren Fenster offenstehen».
Azizullah Ima
Grenzen
Während des Übergangs erkannte ich,
dass Grenzen nicht bloß Leerstellen sind
in den Oden und Ordnungen der Menschen.
Mal sind es rote Linien, die Erblasten tyrannischer Toter,
mal undurchdringliche Wände menschlicher Freude und Trauer.
Während des Grenzübertritts sah ich die Menschen gefangen
in Geografie und Gewohnheit.
Gefangene, die über irdische Wunschträume hinaus
selbst Gott und den Himmel unterteilen
für die Träume nach dem Tod.
Während ich die Grenzen überschritt, verbarg ich meine Wunden,
denn der Pass führte Wunden nicht als Merkmalkategorie.
Als ich die Gefahr in Kauf nahm und die Grenzen überschritt, erkannte ich,
wie bedeutungslos sie sind, all diese diktierten Trennlinien.
Andreas Neeser
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Mein Bild weist mich aus als Fassade
behördlich geprüft und vermessen
gestempelt fürs Leben
versuche ich täglich den eigenen Namen
auf Halbland
ersilbe ich nichts als ein schorfiges a oder u oder au
denn mein Analphabet
buchstabiert nur im Vorlaut
Vokabeln von Abschied und Anfang.
Azizullah Ima
Historienbild
Fassaden sind die Wahrheiten der Oberflächen,
Wahrheiten, die tiefere Gründe nie erreichen.
Alle Texte dieser Welt haben sich die Hände gereicht,
die wilde, blutrünstige Bestie zu brechen.
Kein heiliges Alphabet hat sie je gezähmt,
die Tiere aller Wälder dieser Welt,
keine Regeln und Richtlinien haben sie je gezähmt,
die Tiere aller Wälder dieser Welt.
Fassaden sind die Wahrheiten der Oberflächen,
Wahrheiten, die tiefere Gründe nie erreichen.
Auf dem großen Historienbild ohne Ende
haben die menschlichen Mythen zuweilen
ein Revers, das weder Gott noch Teufel gleicht.
Andreas Neeser
Gaukler
Geschichten haben keine Ränder.
Wir sind immer mittendrin
und schreiben die Geschichte fort.
Aber all unsre Wahrheiten
tragen die Mehrzahl
wie bunteste Mäntel
was sind wir für Gaukler
vernarrt und verblendet
im endlosen Spiel
denn die einzige Wahrheit
ist immer Gerücht
wie wir selbst.
Azizullah Ima
Gerücht
Oh, des Gerüchts Schwerter, wie sind sie schärfer!
Fünf verwundete ein Mann
gerade erst gestern in Paris
für Gottes Wohlgefallen,
für das größte Gerücht des Menschengeschlechts.
Andreas Neeser
Wie die Hunde
All diese haltlosen Stimmen erwittern, verfolgen wie Fährten aus Lärm und Geschrei und Getöse, tagtäglich, zurück bis zum Ursprung, denn jedes Gerücht ist ein Vorwand für Faulheit.
Wenn die Masken dann fielen – wär es gnadenlos still.