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Being a Burgdorfer

Shukri Al Rayyan
Ohne Titel, digitale collage von © Georg Ahmad.
© Georg Ahmad, Ohne Titel, digitale Collage, unter Verwendung einer Fotografie von Talal Doukmak

 

“Haben Sie die Burg gesehen?”, fragte mich der Mann am Empfang des Heilsarmeebüros. In dieses Büro kam ich mindestens einmal im Monat, um eine Kontrollliste zu unterschreiben, die unsere Anwesenheit in dem Kanton, wo wir als Geflüchtete untergebracht waren, bestätigte. Damals waren meine Familie und ich in Langenthal untergebracht. Das Regionalbüro befand sich in Burgdorf, 24 Kilometer von Langenthal entfernt, also mussten wir einmal im Monat dorthin fahren, um dieses bestimmte Papier zu unterzeichnen. Diese Aufgabe hatte man mir stellvertretend für den Rest meiner Familie übertragen. Der Rezeptionist fragte mich, wie ich es fände, in Langenthal zu leben, nachdem wir mehr als ein Jahr lang von einem Aufnahmelager ins nächste überführt worden waren. Ohne zu zögern antwortete ich, dass von allen grossen und kleinen Städten und Dörfern, die ich im vergangenen Jahr besucht hatte, Langenthal für mich der schönste Ort in der ganzen Schweiz sei. Daraufhin fragte mich der Rezeptionist, der zufällig ein Burgdorfer war, mit einem unverkennbaren Lächeln nach der Burgdorfer Burg.

Ich konnte seine Frage verstehen (genau genommen deren inneren Antrieb). Als Damaszener, dem es nicht leichtfällt, einen Besucher das Loblied beispielsweise Aleppos singen zu hören, ohne ihn mit dem Hinweis auf etwas Einzigartiges in Damaskus zu unterbrechen, verhalte ich mich im Grunde genauso. Es ist eine “Tradition” unter den Einwohnern alter Städte in Syrien. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass das typisch für Einwohner alter Städte auf der ganzen Welt ist, um einander zu “verstehen”. Was nun aber der Rezeptionist nicht verstehen und ich ihm auf die Schnelle nicht erklären konnte, war, wie es dazu kam, dass ich mich dermassen in eine Stadt verliebt hatte, in der ich gerade mal ein paar Wochen wohnte!

Es hatte als Spiel angefangen und endete als Liebesgeschichte. Meine Frau Joumana und ich hatten Langenthal schon sieben Monate, bevor wir dort unterkamen, gekannt. Das Lager in Aarwangen, unser letztes vor der Unterbringung in Langenthal, war nur 4 Kilometer entfernt, und so wurde der Ort zum Ziel der täglichen Spaziergänge, mit denen wir uns kurze Auszeiten vom Lager gönnten. In diesen Monaten begannen wir mit dem Spiel, um das überwältigende Gefühl des Exils ein wenig zu lindern.

Es ist nicht leicht, auf einmal alles zu verlieren, und das widerfährt allen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und ins Exil zu gehen. Alles zu verlieren. Selbst die kleinen, unauffälligen Details deines täglichen Lebens, einschliesslich der Umgebung, durch die du jeden Tag gehst, ohne innezuhalten und ihr einen Blick zu schenken, werden dir im Exil plötzlich so lieb und teuer, dass du einfach alles vermisst. Ein „wärmendes“ Spiel tat also not, und das gemütliche und gastfreundliche Langenthal lud dazu ein, sich dem hinzugeben. Wir fingen an, den Strassen Damaszener Namen zu geben, und es funktionierte tatsächlich.

Es dauerte nicht lange, und unsere Söhne hörten uns über neue Schuhe reden, die wir in einem Geschäft in der „Al-Shalaan-Strasse“ gesehen hatten, oder von einem anhaltenden Streit, der kaum eine halbe Stunde nach Verlassen unseres Stammcafes am „Aarnoos-Eck“ begonnen hatte. Das waren Strassennamen aus Damaskus, die wir den Langenthaler Strassen gegeben hatten. Für uns war das ein Weg, um die Leere zu durchbrechen, der wir ins Auge sahen, seit wir, schon an der Schwelle zu unseren Fünfzigern, aus unserer Heimat geflohen waren. Durch dieses kleine Spiel begannen wir beide, Langenthal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Praktisch machten wir es zu unserer neuen „Heimatstadt“.

Zwei Jahre nach der Begegnung mit dem Rezeptionisten, der mich nach der Burg gefragt hatte, zogen wir wirklich nach Burgdorf. Und hier konnten wir das alte Spiel nicht wiederholen. Joumana war es nicht mehr nur um ein Spiel zu tun, sondern um das echte Leben. Für Spiele bleibt keine Zeit mehr, wenn du dem Geschäft des echten Lebens nachgehen und ein Teil dessen sein willst, was jeden Tag um dich herum geschieht. Die ganze Zeit damit zuzubringen, dich an die Heimat zu erinnern, daran, was du verloren hast, kann dich leblos machen und dir die Alltagserfahrungen des Exils versperren. Du musst nicht vergessen, aber du solltest auch nach vorn blicken. Auf diese Weise erlangst du die Kraft für beides: zu leben und dich zu erinnern. Wie das arabische Sprichwort sagt: “Wenn du allein dort bist, ist es nicht der Himmel.” Oder um es mit Joumana zu sagen: Wenn du auf der Suche nach einem neuen Leben bist, musst du zuallererst Freunde finden. Und genau das schaffte sie. Sie brauchte nur wenige Monate, um in der neuen Stadt auch neue Prioritäten zu setzen und ihr eigenes Leben zu beginnen.

Für mich war es nicht leicht, diesen Weg einzuschlagen. Als Schriftsteller ist es Teil meines “Geschäfts”, isoliert zu sein. So versuchte ich zu dem früheren Spiel zurückzukehren und den Strassen Burgdorfs Damaszener Namen zu geben. Doch es funktionierte nicht mehr. Und es war die Burg, die meine Tricks von einst vereitelte.

Zwar haben wir in Damaskus unsere eigene Burg, doch hockt sie dort nicht auf einem Hügel und starrt dich noch in den abgelegensten Winkeln der Stadt an. Diese Allgegenwart würde mich immer daran erinnern, dass ich nicht mehr in meiner alten Stadt war.

Wenn du am Ertrinken bist, klammerst du dich an einen Strohhalm. Geflüchtete sind die schlimmste Art von Ertrinkenden. Manchmal finden sie keinen Strohhalm, halten aber bis zum letzten Atemzug Ausschau nach einem. Mein „Strohhalm“ war der „Schlüssel“ gewesen, mit dem ich im Bruchteil einer Sekunde nach Damaskus zurück konnte, auch wenn ich mitten auf einer Strasse in Langenthal stand. Und ja, es gab viele Schlüssel für mich in Langenthal. Meistens fand ich sie an den Strassenecken, in den Ladenfronten und sogar im Lächeln der Ladenbesitzer. Überall um mich herum lagen Gelegenheiten verstreut, die Erinnerung zu entfachen und mich, fort von dem Fleck, auf den ich den Fuss gesetzt hatte, zurückzubringen. In Burgdorf war es wegen der Burg aber unmöglich, Damaskus oder irgendeine andere Stadt zu finden. Es war einfach nur Burgdorf.

 

Ich war kurz davor, mich dem Gefühl des Verlusts zu überlassen und zu bekennen, ein Fremder an einem fremden Ort zu sein. Dann plötzlich bekam ich meinen „Schlüssel“ doch noch zu fassen und konnte hineinkommen. Es geht nicht um die Gemeinsamkeiten von Strassenecken. Es geht um etwas anderes, etwas so Allgegenwärtiges wie die Burg selbst. Es ist in der Luft, besonders im Frühling. Sie hat den gleichen Geruch und fühlt sich genau so an wie die Frühlingsluft in Damaskus. Und so geschah es mir, dass ich, als ich an einem warmen Frühlingsabend die Strasse hinunterging, plötzlich stehenblieb, soviel Luft einsog wie ich nur konnte und mich umsah: Mein Gott, ich bin in der Al-Mazraa-Strasse in Damaskus! So lebendig war meine Erinnerung daran, die Al-Mazraa-Strasse entlangzugehen, umgeben von vertrautem Duft und Wärme, dass zu meiner Überraschung sogar die Fassaden der umliegenden Burgdorfer Häuser Umrisse anzunehmen schienen, die den Gebäuden jener Strasse in Damaskus ähnelten!

Nachdem ich nun meinen „Schlüssel“ wiedergefunden hatte, blickte ich zur Burg hinauf. Sie war in verschiedenen Farben beleuchtet, so dass sie mich in diesem Moment an die Lichter des Eid-Abends in Damaskus erinnerte, die Lichter, die den Beginn des Zuckerfestes anzeigen. Keine Ecke irgendeiner Strasse in Damaskus, die von diesem vielfarbigen, freudvollen Aufstrahlen nicht erleuchtet würde, um jeden daran zu erinnern, dass es Eid-Zeit ist … Zeit zu feiern. Es war, als wollte die Burg sagen: Willkommen, Fremder.

Nun, da ich meinen Weg hinein gefunden habe, würde ich den Rezeptionisten gern noch einmal begegnen, nur um ihm zu sagen: Ja, mein Freund, ich sehe die Burg – aber die Burg sieht mich jetzt auch.

 

– Korridor der KüsseLesenرواق القبلات
– Etwas ist seltsam, sogar in der Luft!Lesen !شيء ما غريب، حتى في الهواء
– Hinein in den KühlschrankLesenالدخول إلى الثلاجة

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