Eine Million dahintreibender Worte als ein Steg für Noahs Leute
Noahs tausend Schiffe
Obwohl es sich um Noahs Arche handelte, fing die europäische Küstenwache unser Schiff ab. Noah ist der älteste und berühmteste aller Propheten, und sie wussten genau, dass das Schiff ihm gehört. Sie versenkten es trotzdem. Im Wasser trieben wir dahin, bis wir die Küste erreichten. Dort empfingen uns Grenzsoldaten mit Knüppeln. Sie hieben ein auf unsere Köpfe und unsere Körper. Unmissverständlich machten sie uns klar, dass sie uns die Knochen brechen wollten. Kein weiteres Mal sollten wir auf die Idee verfallen, die Grenzen zu ihrem Paradies zu überschreiten … oder dem, was wir für ein Paradies gehalten hatten.
Sie ergriffen den Besitzer des Schiffes, Noah höchstpersönlich, und führten ihn ab zum Verhör. Weshalb rettete er Tiere und Menschen vor der Sintflut? Weshalb steuerte er mit seinem Schiff die europäische Küste an?
Nach zahllosen Tritten und Schlägen lagen wir anderen da mit zerschmetterten Gliedern. Keineswegs brachten sie uns in ein Krankenhaus. Im Gegenteil, sie verluden uns auf ein anderes Schiff und befahlen: »Paddelt weiter zu einem anderen Ufer …«
Noahs Schiff war mit siebenhundert Überlebenden über die Wellen des Mittelmeers gesegelt. Gott hatte sie dahingetragen auf Brettern und Planken, Schlangen, Elefanten, Vögel und Schweine, Hunde und Katzen, Kühe und Kälber. Die europäische Küstenwache beschlagnahmte alles, was an der Küste anlandete. Diejenigen von uns, die nicht hatten schwimmen können, trieben nun tot und mit aufgeblähten Leibern auf der Wasseroberfläche. Wer eine Schiffsplanke erwischt und sich daran festgeklammert hatte, trieb auf die steinige Küste zu. Dort empfingen uns erneut die Schlagstöcke der Soldaten.
Wir fragten uns: »Weshalb nur, Gott, hast du Noah dazu gebracht, uns hierherzubringen? Nach Europa? Und weshalb lässt du unserem Schiff tausend andere folgen, wo dieser Flecken Erde uns doch so brutal zurückweist?«
Hunderttausend Geschichten singt mir der Wiedehopf
Zwei Jahre, nachdem unser Schiff untergegangen ist, erhalte ich eine Zugfahrkarte und einen Flüchtlingsausweis. Über das, was ich erlebt habe, vermag ich nicht zu schreiben. Meine Wege und die der anderen, die mit Noah angekommen sind, haben sich getrennt. Wenn wir uns zufällig in einem Café begegnen, vermeiden wir es, über das zu sprechen, was uns verbindet. Oft ist es die dunklere Haut, die uns verrät. Keiner von Noahs Leuten ist mit heiler Haut davongekommen, alle sind wir gezeichnet vom Kampf mit den Fluten und mit der Küstenwache.
Ich hinke, seit ich in dieser europäischen Stadt lebe. Mein gebrochenes Bein ist nur mühsam ausgeheilt. Morgens zwinge ich mich, früh aufzustehen, um das Zwitschern der Vögel zu hören, die mit unserem Schiff gekommen sind. Manchmal kaufe ich im Supermarkt Vogelfutter und gehe in den Park. Überall hängen Schilder, auf denen steht: Vögel füttern verboten! Wie aber soll ich sie nicht füttern, wo sie mich doch auf Noahs Arche begleitet haben? Weshalb soll ich sie jetzt nicht füttern, da ich sie doch schon in den Wellentälern des Meeres gefüttert habe? Gehe ich Mittagessen, vermeide ich es, mir ein Gericht mit Schweinefleisch zu bestellen. Dasselbe gilt für Rindfleisch. Beide, Rinder und Schweine, waren bis zuletzt mit mir auf dem Schiff.
Der Wiedehopf kommt zu mir, um sein uraltes Gewerbe auszuüben: Er ist ein Bote, der die Nachrichten der Könige überbringt. Diesmal jedoch beginnt er mir von dem Land zu erzählen, das von der Flut verschlungen worden ist.
Morgens stehe ich auf, um seine Geschichten aufzuschreiben. Ich trinke einen Tee, esse einen Keks und ein Stück Schokolade. Dann höre ich geduldig dem Wiedehopf zu. Er komme zu mir aus meiner alten Stadt, berichtet er, und zwar just von jenem Strassenverkäufer, mit dessen Bohnengericht ich im Ramadan auf der Haram-Strasse das Fasten zu brechen pflegte. Der Verkäufer ist in der Sintflut umgekommen, zusammen mit den Beamten der Geheimpolizei, die in aller Frühe an meine Wohnungstür geklopft hatten, um mich zum Büro der Nationalen Sicherheit zu bringen. Als das Wasser zurückging, schwammen ihre Leichen obenauf, ihre alte Machtfülle nützte ihnen nichts mehr.
Der Wiedehopf erzählt mir, wie mein Land von der Sintflut überspült wurde. Er berichtet vom Grossen Führer, der sich eben auf eine neue Runde in den Präsidentschaftswahlen vorbereitet hatte. Die Opposition hatte er längst wegsperren lassen. Zur scheinbaren Belebung der Konkurrenz war ein Wahlausschuss ins Leben gerufen worden. Wer die Frechheit hatte, einfach seinen Namen in diese Listen einzutragen, kam ebenfalls sofort ins Gefängnis. So wie überhaupt alle, die den Grossen Führer von der Spitze der Macht entfernen wollten. Vier junge Männer waren hinter Gittern gelandet, nur weil sie sich verbündet hatten, um Stimmen gegen sein Regime zu sammeln. Der Wiedehopf erzählt mir, wie die Flut alle seine Pläne durchkreuzt hatte und wie er plötzlich spurlos verschwunden war. Möglich, dass ein europäisches Land ihn aufgenommen hat. Gerüchte machen die Runde, dass er im letzten Moment eines der U-Boote bestiegen hat, die er mit den Geldern des Internationalen Währungsfonds beschaffte und für die er sogar eine der drei Pyramiden verkaufen liess … Wohin sein U-Boot wohl gefahren sein mag?
Der Wiedehopf erzählt mir tausend Geschichten … zehntausend Geschichten … ja, hunderttausend. Ich schreibe mit, so schnell ich kann. Wie ein Verrückter sitze ich da und mache Notizen. Es sind Geschichten von Unterdrückten und im Gefängnis Vergessenen, Geschichten von im Meer Ertrunkenen, Geschichten von Menschen, die verscharrt worden sind, nachdem sie auf Polizeiwachen oder in den Kellern der Nationales Sicherheit zu Tode gefoltert wurden. Dazu kommen die Geschichten derer, die von Haien gefressen wurden, nachdem ihre Boote von der europäischen Küstenwache versenkt worden waren. Und es sind die Geschichten derjenigen, die Schmuggelbanden bezahlt haben, damit sie sie in einem der Schiffe Noahs übersetzen auf der Flucht vor der Flut. Von den Schmugglern wurden sie aufs offene Meer hinausgefahren und dort allesamt getötet. Ihre Leichen wurden ins Meer geworfen, sie wurden verraten und starben, weil sie gedacht hatten, die Schmuggler seien Abgesandte des Propheten Noah, die sie zu seiner Arche führen würden.
Weiter geht es mit Geschichten, die mir die Raben zutragen. Meine Notizbücher türmen sich zu immer höheren Stapeln. Schliesslich erobern sie auch noch mein Bett und meinen Schlaf. Aus Angst, dass die Stapel umkippen und sich alles heillos über den Boden verteilt, taste ich mich nur noch vorsichtig vorwärts. Als ich das Fenster öffne, wundern sich meine Nachbarn über den Anblick. Ich ziehe die Vorhänge zu: Notizbücher in jeder Ecke meines Zimmers. Hunderttausend und eine Geschichte schlummern tief in den Stapeln und warten nur darauf, aus ihrem Schlaf geweckt zu werden.
Eine Million Worte
Die Beamtin der Sozialhilfe setzte mir einen Termin. Ihre Aufgabe ist es, für meine Ausgaben zu sorgen. Sie stellt mir die Mittel für die Miete zur Verfügung. Von einem anderen Teil des Geldes esse und trinke ich. Wir trafen uns in ihrem Büro. Das Thema unseres Treffens lautete: Weshalb kam es mir in den Sinn, mich für ein Studienprogramm einzuschreiben und einen Masterabschluss anzustreben, statt dass ich mir sogleich eine Arbeit suchte?
Ich sprach: »Sehr geehrte Frau Beamtin, der Universitätsabschluss, den ich in meinem Land gemacht habe, wird hier nicht akzeptiert, und es ist mir daher nicht möglich, eine diesem angemessene Arbeit zu finden. Vor der Sintflut arbeitete ich als Journalist und als freier Schriftsteller. Muss ich nun die öffentlichen Toilettenanlagen Ihrer Stadt reinigen? So wie ich auf dem Posten der Nationalen Sicherheit vom Offizier zum Toilettenputzen geschickt worden bin, damit er in der Zwischenzeit ungestört meinen Facebook-Account durchstöbern konnte, auf der Suche nach Posts gegen das Regime?«
Den Platz des Offiziers der Nationalen Sicherheit hatte hier die Sozialarbeiterin eingenommen, nur dass sie viel netter auftrat als er. Sie erwiderte: »Als Sozialarbeiterin und als Mensch kann ich Ihren Wunsch, sich persönlich weiterzuentwickeln, verstehen. Dennoch kann ich die Grundsätze der Sozialhilfe nicht umstossen. Mit Steuergeldern ist es uns nicht möglich, jemanden bei der Erlangung eines Masterabschlusses zu unterstützen.«
Mir war nicht danach, ihr von meinen neuesten Glanzleistungen zu berichten: Von den hunderttausend Geschichten, die ich geschrieben hatte, sagte ich kein Wort. Auch nichts von meinem Plan, sie allesamt ins Meer zu werfen. Hüben wie drüben, die Tyrannei bleibt sich gleich. Staatliche Beamte verabscheuen das Schreiben. Sie hassen jegliche Fiktion und Fantasie und zollen ihr keinerlei Anerkennung. Bevor Gott die Sintflut über die Welt schickte, hatte der Offizier der Nationalen Sicherheit mich von meinem Job als Journalist entfernen lassen und mir jede Veröffentlichung auf freien Internetseiten untersagt. Dann begann das Wasser zu steigen. Ob es dem Offizier gelungen ist, im letzten Moment ein Schiff zu besteigen? Ich weiss es ich nicht. Dieser Gedanke ging mir gerade durch den Kopf, als mich die nette Beamtin der Sozialhilfe anblickte und fragte: »Was für eine Stelle werden Sie denn bekleiden, wenn Sie einen Master abgeschlossen haben? Was für ein Gehalt streben Sie an?«
Mit heiserer Stimme und bittergelbem Lächeln gab ich zurück: »Wollen Sie ernsthaft von mir wissen, was ich in zwei, drei Jahren mache? Vielleicht schickt Gott die nächste Sintflut. Vielleicht beschliesst ein Prophet, ein weiteres Schiff zu bauen. Dann wird Ihre Frage gegenstandslos. Haben die Steuerzahler Sie tatsächlich damit beauftragt, mir solche Fragen zu stellen? Sprechen diese Steuerzahler denn ihrerseits offenherzig über ihre eigenen Gehälter und darüber, wieviel sie in Wahrheit ausgezahlt bekommen?«
Die Beamtin der Sozialbehörde machte sich einige Notizen und schenkte mir ihrerseits ein gelbes Lächeln. Dann entliess sie mich mit dem Versprechen, mein Anliegen zu prüfen und eine Lösung zu finden, die meine Interessen berücksichtige und gleichzeitig nicht im Konflikt stehe mit den Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sowie den Anführern jener Parteien, die grundsätzliche jegliche Landung von Archen an Europas Küsten ablehnen.
Und doch kommt eine weitere Arche Noah mit weiteren Geflüchteten an …
Und wieder eine Arche Noah …
Und wieder eine … und wieder eine … und wieder eine …
Sie kommen in Hülle und Fülle …
Da rief mich Anna S. an. »Die Deadline«, sagte sie. »Wo ist denn deine Geschichte? Das Geld für die Veröffentlichung haben wir dir schon überwiesen. Wir brauchen sie noch diese Woche.«
Doch welche Geschichte soll ich ihr geben? Ich habe keine einzelne Geschichte für sie, ich habe hunderttausend Geschichten. Ich horte sie in Hunderten von Notizbüchern, jede Geschichte zwischen fünf und zehn Seiten lang.
Ich ging los und bestellte ein Grossraumtaxi. Ich stapelte alle Notizbücher in den Van. Dann, mit den ersten Sonnenstrahlen des Morgens, sagte ich zum Fahrer, dass er uns ans Mittelmeer bringen soll. Unterwegs erzählte ich ihm von den europäischen Flüchtlingen, die im Jahr 1941 auf der Flucht vor Hitler auf Tausenden von Schiffen in Richtung Alexandria in See gestochen sind. Den Mann schien das nicht zu interessieren. Vier Mal hielt er auf dem Weg an, um etwas zu essen, auf die Toilette zu gehen, mit einer Frau zu schlafen, zu telefonieren und ein paar Stündchen zu schlafen.
Nach zwei vollen Tagen kamen wir endlich an der Küste an. Dort luden wir meine Notizbücher aus. Ich wusste, dass sie randvoll waren mit Abertausenden von Worten. Ich schlug sie auf und legte sie nebeneinander ins Wasser. Meine Notizbücher begann zu schwimmen, meine Worte trugen sie. In diesen Büchern steckten Millionen von Worten, hunderttausend und eine Geschichte waren in ihnen niedergeschrieben. Diese Millionen von Worten waren mit Tausenden von Kugelschreibern hineingeschrieben worden in einer Tinte, die nicht verblasst und nicht verwischt. Der Fahrer zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und schaute mir zu. Ohne mir seine Hilfe anzubieten, beobachtete er, wie ich die Notizbücher vom Strand ins Meer gleiten liess, Notizbuch nach Notizbuch, die einen langen Steg bildeten, einen Steg, der länger und länger wurde …
Meine Notizbücher wurden zu einer Zunge aus dicker Pappe, die leicht dahinschwamm, voller Anmut und Stärke, beschwert einzig und allein von meinen Worten. Meine Worte gaben meinen Notizbüchern einen Sinn. Wären es Hefte mit weissen Blättern gewesen, sie hätten nicht auf diese Art schwimmen können. Ich renne hin und her, hin und her, jedes Mal beladen mit zehn weiteren Notizbüchern. Eines lege ich neben das andere. Mit jedem Schiff, dass sinkt, sinken Körper. Mit jedem Körper, der versinkt, versinken auch Buchstaben und Worte. Und Geschichten. Und Märchen. Und die Erzählungen von Menschen, die fliehen.
Ich habe überlebt. In meiner Sprache habe ich überlebt. Und in meinen Geschichten. Und all dies liegt nun aufgeschlagen vor mir in einer langen, langen Reihe von Millionen von Worten, dahinschwimmend auf den Wellen des Meeres – damit Träumende und Flüchtende auf ihnen übersetzen.
Winterthur, August 2021 bis Juli 2023