Der Spiegel der Geschichte
Seit 2022 arbeiten Azad Şîmmo und Gianna Olinda Cadonau an einem mehrsprachigen lyrischen Dialog. Dieses Gedicht, auf Türkisch, Rumantsch und Deutsch, wurde über einen römischen Spiegel aus dem Fundort Chur Arial Ackermann verfasst.
Azad Şîmmo:
Ich schweige
über den Wind der Geschichte,
der aus einem Gewölbe mir schlägt ins Gesicht,
bin umringt von den Mauern der Finsternis
als die Kälte eines Spiegels meine Hände trifft
welcher Liebe Beweis ist das,
die Niederlage welchen Heeres
die Fahrt in welches Ungewisse,
ich weiß es nicht
ein Spiegel steht im Mittelpunkt der Zeit
He, Geschichte
erzähle mir nicht, dass man zu dir gehört
wo ich doch das Scheitern bin der Zeit
schlinge meine Arme um einen Traum, den ich durchmaß
ich komme, bei dir ist der eigentliche Platz
seit ich mir die Zeitendämmerung umlegte
und auf den Jahrhunderten ritt
Gerade kam mir in den Sinn
vielleicht auch ist Geschichte
die gesammelte oder eingebüßte Zeit,
die sich unser aller Urteilskraft entzieht,
auch wenn wir die Zivilisation auf höhere Stufen heben,
der Drang nach einem Blick zurück brennt stets in unsrer Brust
jetzt also ist einer dieser Momente
während ich die Stufen eines Museums erklimme
träume ich wieder vom Unmöglichen
und muss wissen, dass meine Beine
mich ausharren lassen, gefangen in den Tiefen der Bronzezeit
vor mir ein römischer Spiegel
und genau aus diesem Grund
ist die Geschichte
wohl ein der Vergangenheit vorgehaltener Spiegel,
von Epoche zu Epoche weitergereicht,
Spur der Residenz eines Souveräns
oder des Kämmerleins einer Geliebten
Jetzt in deiner Abwesenheit
treibe ich mein Pferd an und denke,
ich mache mich wieder auf den Weg
gleich einer Braut, deren Bündel längst gepackt ist,
deren Kummer so tief ist wie ihre Furcht
deren Schicksal so ungewiss bleibt wie ihr Leben
Was ist denn des Menschen Kostbarstes,
das ein ganzes Leben umfängt,
vor bösen Blicken stets verborgen,
vielleicht ein Handspiegel im Glanz der besten Erinnerungen
ein Spiegel, der das schönste Lächeln aufbewahrt,
ein Spiegel, der die ferne Vergangenheit einflüstert
Ich schweige
verstreute Träume aufzulesen ist schwer
dem toten Körper neues Leben einzuhauchen, schwer
Brände, von Epoche zu Epoche mehr, künden davon
wes Geistes Kind der Mensch ist,
der die in die Tafeln der Geschichte gemeißelte
Apokalypse endlos vermehrt
und die Schuld stets anderswo sucht
Ach, das Gesicht der Geschichte ist wieder dein Fehlen,
während ich hoffe mit suchendem Blick
und in meinem Herz wieder wohnt das „Vielleicht“
im Grunde ist es schwer zu fassen
in der Wärme endloser Träume
in jenem Spiegel der Geschichte, der sich durch Jahrtausende bohrt
Eiseskälte eines modrigen Kellers
in jenem Refugium, von den Mauern der Geschichte umringt
Ach, wenn doch wieder Atem deinen Körper beseelte
Ach, würden doch deine Augen wieder im Spiegel leuchten
Ach, wenn doch dein Lächeln wieder diese Finsternis erhellte
Oh, ich flehe
Oh, ich bitte
***
Gianna Olinda Cadonau:
aber der Spiegel
ist trüb
Tausende Jahre
Gesichter und Haut
wer sieht mich an
das Gesicht ist nie
alles
der Körper draussen
auf dem trüben Spiegel
sind Linien und Kreise
in die Bronze gekratzt
wer sieht mich an
das Gesicht hinter den Linien
zeichnet weiter
schreibt schreibt schreibt
wieder neu
das Gesicht
korrodiert verfällt
oxidiert verschwindet
bleibt nur
der Spiegel blind
und draussen
der Körper