Avaşîn (Teil 2)
Seit Jahrhunderten spricht hier die Fruchtbarkeit mit dem Boden
Weithin reichen deine prächtigen Haarzöpfe
Der Freiheitsdrang in dir möchte losgaloppieren
Dein Lächeln ist unerschöpfliche Unschuld
Und deine Sprache, welch große Weisheit
Deinem Gesicht sieht man den Mut deines Daseins an
Deshalb ist dein Strömen für mich der Sieg
Ströme du rauschend
Ströme rauschend dahin
Bleib bloss nicht stehen
Halt nicht an, Avaşîn
Mancher steht auf und geht fort in deiner Heimatlosigkeit
Mancher wartet hungrig und verzweifelt
Mancher sucht sich ein Ziel und schiesst auf die Berge
Mancher ist ein Leben lang allein und ohne Identität
Meinen eigenen Zustand kenne ich nicht
Deine Stimme kommt und steigt von den tiefsten Abhängen
Du begrüsst den Tag und fliesst weiter dahin, Avaşîn
Eine Locke fällt dir auf die feuchte Stirn
Ach wie schön bist du so, Avaşîn
Vögel wissen nicht, was Verbannung ist
Das Grün der Bäume wird nicht einfach zu Asche
Dabei wächst im Zentrum eine grosse Schwermut
Deine Kinder schreien laut, wenn das Bajonett ihren Körper streift
Deswegen ist der Munzur ständig in Panik
Der Euphrat krümmt sich
Der Frühling erbittet Leben von der Leidenschaft
Der Tigris trägt manchmal eine zarte Wüstenfarbe
Und manchmal ein Leichentuch, in Blut gewälzt
In der Gebetsrichtung des Himmels erstreckt sich ein Weg
Alles soll dir zum Gefährten geschliffen werden
Wie die Kraft des Zilan aus der Verbindung mit dem Zab kommt
So bist auch du eine wachsende Heimat, Avaşîn
Ich weiss, der Herbst ist die Jahreszeit der Schwermut
Ich weiss auch, du kleidest dich in der Farbe der Freude
Und bemühst dich im Herbst um die Blätter, die von den Zweigen fallen
An den Baumwurzeln sammelt der Wind das Rascheln
Für die Schneeglöckchen, die sich millionenfach vermehren
Ist dieser Widerstand millionenfach Hoffnung
Eine stetig wachsende Pracht
Die Träume sind voller Leben
In den Augen hast du Beispiele für Schlaf gesammelt
Und aller Zeiten Weisheit an deiner Brust gesäugt
Ich möchte dich bis in jeden Winkel auswendig kennen
Tropfenweise sammeln, was ich liebe
Dass meine Augen schauen ohne zu weinen
Vor allem in der Nacht küsse ich deine Zartheit
Dein Leben ist die Inschrift von jenen tausend Jahren
Und die Heimstatt des Herzens, das vor so viel Sehnsucht zerbrach
Nicht für Lügenleben, die zu Asche geworden sind
Vielmehr für eine Liebe, die an der Newroz-Blume entbrannte, Avaşîn
Die Hennaträume der Mütter sollen nicht schwarz werden
Dein Wind entsteht in den Haaren, die auf die Schultern der Töchter fallen
Wohin das Schwarze deiner Augen auch blickt
Überall bleibt deine rebellische Macht
Wenn dieses Leben nicht deins ist
Wessen ist es dann, Avaşîn
Rauch fällt auf die Abhänge deiner Berge
Und siehe, eine barmherzige Sonne erhellt den Morgen
Ist dieses Lieben nicht deine Herrschaft
Sei sicher, zu dir kommt alles Geliebte
Bleib nur nicht stehen
Wachse und wachse im Inneren der echten Heimat
Im Morgenrot wehend
Im Morgenrot wehst du, Avaşîn
Oft habe ich weder den Sinn des Gesagten verstanden
Noch die Wahrheit der Liebe erkannt
Ich bin auch bloss ein Mensch, der Fehler macht
Ich bin schuldig und fähig, ein Mensch zu sein
Deswegen zügele ich meine Sprache
Es kommt der Tag, an dem auch ich gehe
Doch du sollst immer bleiben, Avaşîn
Es kommt der Tag, da schweigt auch meine Stimme
Doch du sollst niemals schweigen, Avaşîn
Steh auf, Mensch, der du im Panzer der Taubheit gefangen bist
Steh auf, mein Mesopotamien, zum Märchen tausendfachen Entstehens geworden
Steh auf aus tiefem Schlaf, mein Stamm der Menschlichkeit
Schau doch, wer ist es denn, der stirbt
Wer tötet die Spatzen des Himmels
Weder die Erde nimmt diese Verbannung hin, noch mein Herz
Ach, wie viel tausendmal bin ich gestorben und wieder zum Leben erwacht
Ich bin der Stamm Kawa*, der Feuer mit Eisen verschmilzt
Ich bin der Mutterleib, der Abraham zur Wiege wurde
Meine Ehre ist, Zeuge zu sein für die Menschlichkeit
Ich verehre das Wasser, das dem Frühling die Hand reicht
Ich bin die uralte Weltgemeinschaft der Gläubigen
Hast du mich immer noch nicht erkannt
Ich bin es doch
Dessen Wasser so kühl sind, Avaşîn
Viele Male habe ich Bräuche aufgeschrieben und gelöscht
Jeder Ort, den ich besuchte, war stets ein Freudenfest
Jugend entstand in meinem wirbelnden Fliessen
Meine Kinder schrieben stets Epen auf meinen Namen
Hoffnung türmte sich in rebellischen Augen
Ein Gruss allein wurde zum Grund für tausend Leben
Es reicht, dass die Sonne aufgeht, die den Morgen rötet
Es reicht, dass die Kraft meinen Leib nicht verlässt
Wie könnte Verrat mich den Kopf beugen lassen
Ich bin der Segen des Lebens, der hohen Räten die Hand reicht
Der unschlagbare Triumph vieler Völker
Ich bin der Wohnsitz freien Lebens, den niemand umzingelt
Ich bin der Beweis für die Freiheit des Daseins
Hast du mich immer noch nicht erkannt
Ich bin es doch
Der den Bergen Umriss und Würde verlieh, Avaşîn
*Kawa oder Kawe. Der Schmied Kawa ist eine Gestalt aus der iranischen Mythologie, der einen Aufstand gegen den grausamen Fürsten Azhi Dahaka angeführt haben soll. Symbol des Widerstandes