Unter freiem Himmel
Ich sehe den blauesten aller Himmel. Ich sehe die Vögel, die in Schwärmen über meinem Kopf fliegen, und könnte nicht freier sein.
Mein Name ist Khalid Ahmad.
Ich weiss nicht genau, an welchem Tag ich geboren bin. Ein Mann vom Meldeamt wanderte nur zweimal im Jahr durch die Dörfer, um sich die Namen der neugeborenen Kinder zu notieren: zu Beginn des Jahres und im Sommer. In deinem kurdischen Pass steht deswegen entweder der 1. Januar oder der 1. Juli als Geburtsdatum. Die Wanderung der Registrierungsbeamten dauerte jeweils ein bis zwei Monate. Für sie war es ein Picknick. Sie assen frisch und gut und brachten bei ihrer Rückkehr je nach Jahreszeit und Vermögen Eier, Joghurt, Käse, Butter, Melasse, Honig, Früchte und Gemüse mit nach Hause.
Ich bin zwischen dem 15. Juni und dem 20. Juli 1972 in dem Dorf Qamchugha in der Nähe von Sulaimaniyya geboren. Wahrscheinlich war es Juli, als ich meine Augen zum ersten Mal öffne – und ich sehe: den Krieg. Ich bin im Krieg geboren. In Kurdistan, einem Land, das es eigentlich nicht gibt. Erst nach dem Volksaufstand im Frühling 1991 verwalten wir eine Hälfte des irakischen Kurdistans in Autonomie. Kurdistan bleibt aber ein Land, das andere sich wegwünschen, das andere Irak, Syrien, Türkei oder Iran nennen, je nachdem an welchem Rockzipfel des Landes du hängst.
Mir ist egal, wie das Land heisst. Ich wünsche mich in die Hügel, ich bin Hirte. Ich bin sieben Jahre alt und stolzer Vater einer Ziegenherde. Meine Ziegen sind Jungziegen, zwei bis sieben Monate alt. Nach der Schule und in den Sommerferien laufen meine Tiere und ich unter dem blauesten aller Himmel, hinter mir her laufen meine Geschwister, meine Cousinen und Cousins, in unseren Köpfen wilde Geschichten und lustige Spiele. Damals hatte ich sieben Geschwister, sieben weitere aus der zweiten Ehe meines Vaters würden noch folgen, aber eigentlich sind wir im Dorf alle verbrüdert. Jeder ist mit jedem verwandt, wir heiraten uns gegenseitig, wir, die achtzig bis neunzig Familien des Dorfes.
Als ich sechzehn Jahre alt bin, stirbt meine Mutter bei einem Überfallkommando unterwegs im Auto. Mein Vater heiratet wieder, meine Grossmutter bleibt meine Lieblingsfrau.
Ich habe viele Bilder im Kopf, wenn ich an meine Kindheit in Kurdistan denke. Zwei, drei Schüler mussten auf Wunsch der Lehrer in der Schule immer Lieder singen. Tosdaka war mein Lieblingslied, Tosdaka war das Lied, das ich damals am öftesten sang. Ein Liebeslied, ein Volkslied:
Tosdaka tosdaka narma narma tosdaka
Jahrm datsche bo kani ganjakan aloz daka
Staubig, staubig sind ihre Füsse
Während sie zum Bach geht, um Wasser zu holen
Die jungen Männer staunen
Ich fühle mich, als könnte ich mit den Vögeln fliegen. Ich staune jeden Tag mit dem Kopf in den Himmel. Es ist meine ganz grosse Zeit, die sorglose Zeit als Hirte, die Zeit mit den Geschwistern, den Cousinen und Cousins in den rauschenden Wiesen, eine wunderschöne Zeit. Sind wir müde vom Gehen, setzen wir uns hin und starren auf die weit entfernte Autobahn. Stundenlang sitzen wir da und beobachten, wie die Sonne sich in den Frontscheiben der Wägen spiegelt und Blitze in den Himmel schickt. Dieses Blitzen war das Einzige, was wir erkennen konnten, die Autobahn war eine ganze Stunde Fussweg entfernt. Eine Zeit lang ziehen nur Wolken und Vögel über unsere Köpfe hinweg, doch irgendwann tauchen sie auf: die dunklen Schwärme, die Schwärme der dröhnenden Hubschrauber. Und es beginnt Bomben zu regnen.
Zum Glück schützt uns das Haus, das mein Vater eigenhändig gebaut hat – der beste Maurer weit und breit. Auf den beiden Stockwerken unseres Hauses ist das ganze Leben verteilt: unten die Tiere, oben die Familie. Wir verlieren uns in schlaflosen Nächten, weil wir nicht aufhören können unter der Decke zu lachen und zu reden. Mein kleinster Bruder schlägt mich sogar leicht ins Gesicht, wenn ich einschlafe, ich soll ihm noch eine Geschichte erzählen und dann noch eine und noch eine.
Bis ich sechzehn bin, bin ich glücklich in meiner Welt und hinterfrage sie nicht. Doch dann merke ich, dass ich mich wehren, dass ich mich gegen die Unterdrückung auflehnen will, und werde Anarchist, auch wenn ich den Begriff erst Jahre später kennenlernen würde. Zuerst wehre ich mich gegen die Unterdrückung durch meinen Vater. Ich kann viele seiner traditionellen Ansichten nicht mehr akzeptieren. Ich reisse aus und laufe in die Berge, weit hinein in eine sehr dunkle Nacht. Ich laufe weiter, bis ich sie höre – meine Grossmutter! Sie ruft in die Nacht, in die Berge: Khalid, Khalid! Ich höre, wie sie mit sich selbst spricht: Wir werden ihn nicht mehr wiedersehen, wir haben ihn verloren, wir werden ihn für immer vermissen.
Ach. Ich wollte die ganze Nacht in den kalten Bergen bleiben, doch als ich ihren Ruf höre, kehre ich um. Plötzlich überkommt mich die Angst und ich verstecke mich in der Moschee in der Toilette, um alleine zu sein. Meine Grossmutter kehrt hoffnungslos nach Hause zurück, wo noch alle schlafen, alle, ausser ihr. Als ich in der Dämmerung nach Hause komme, flüstere ich ihr ins Ohr: Grossmutter, ich bin da, ich bin bei dir.
In der fiebrigen, kindlichen Rebellion gegen die Familie flammt es zum ersten Mal auf: das Gefühl, gegen die Ungerechtigkeit kämpfen zu wollen. Später wurde daraus ein Kampf gegen die Unterdrückung der kurdischen Menschen im Irak, in Syrien, der Türkei, dem Iran. Gegen die Tatsache, dass wir unsere eigene Sprache – das Kurdische – in anderen Teilen der Welt bis heute nicht sprechen, dass wir keine kurdische Kultur leben, keinen kurdischen Namen tragen dürfen. Du bekommst in Syrien zum Beispiel, wenn du Pech hast, nicht einmal einen Ausweis, darfst nicht zur Schule gehen.
GERECHTIGKEIT? REVOLUTION! rufe ich. Und meine Freunde, mein Volk mit mir. Ich geselle mich zu linken Gruppierungen, die sich gegen das irakische Regime wehren. Ich bin jung, aber ich will mich wehren. Jeden Morgen um acht Uhr höre ich die Rotoren der Hubschrauber, ich höre die Bomben. Das Regime bombardiert wahllos Dörfer, weil sie glauben, dass sich dort Rebellen verstecken. Und, ja, sie verstecken sich dort. Ich esse neben ihnen schlafe mit ihnen unter einer Decke. Wir sprechen viel, wir sprechen die gemeinsame Sprache – die Sprache der Freiheit. So werde ich selbst ein Rebell. Ich ziehe in die Stadt und werde Mitglied der sozialistischen Partei, helfe mit, wo es etwas zu helfen gibt: Ich verteile Flyer gegen das irakische Regime, auf denen das Gesicht von Saddam Hussein abgebildet ist, ich hänge Plakate gegen das Regime an Mauern, helfe Informationen der Rebellen über Truppenbewegungen weiterzuleiten, Medikamente zu transportieren.
Auch wir bewaffnen uns – zum Schutz. Zum Glück habe ich niemals auf einen Menschen geschossen. Das ist auch nicht nötig. Wenn wir überlegen sind und auf einzelne Soldaten treffen, legen sie ihre Waffe wortlos nieder. Sie ergeben sich und können danach mit uns essen, sie können sogar mit in unser Dorf kommen.
Die Erinnerung an den Frieden, sie liegt weit und blass zurück, ist nur ein Moment, aber ich spüre ihn in den Kinderschuhen, meinen Moment. Für andere mag er klein sein, für mich ist er gross, der Moment des Friedens, wenn ich mit den Ziegen in den Hügeln bin und unter dem blauen Himmel laufe. Frieden, wie ihr ihn versteht, diesen Frieden gab es in meinem Leben nie.
1991 lässt der irakische Diktator Saddam Hussein unseren Volksaufstand niederschlagen. Wir müssen fliehen. Achtzig Prozent, mehr als drei Millionen Menschen, müssen ihre Heimat verlassen – zu Fuss. Viele sterben. Unser Dorf, in dem unsere Geschichten und unser Lachen nächtelang unter den Decken flackerten – unser Dorf wird leer und still. Es wurde wie die anderen kurdischen Dörfer zerstört und verbrannt.
Die Frauen und Kinder gehen zuerst, laufen uns voraus. Wir Männer versuchen die Stellung so lange wie möglich zu halten. Wir wollen uns wehren, doch irgendwann sehen wir ein, dass wir das nicht überleben werden. So geben wir im letzten Moment auf und ziehen weg, über die Felder hinaus, weit weg von zu Hause. Vor meinen Augen explodiert eine Mine, die direkt unter den Füssen meines Vaters in der Erde vergraben war. Er überlebt, behindert. Mein grosser Bruder versucht ihn aus dem Minenfeld zu retten, unter seinem Fuss explodiert eine zweite Mine, auch er überlebt, behindert.
Mein älterer Bruder blutet so stark, dass er sehr schnell ins Krankenhaus muss. Meinen Vater legen wir auf einen Gaul und binden ihn fest, damit er nicht herunterfällt. Mein zweiter älterer Bruder begleitet ihn. Der Rest der Familie bleibt zwei Nächte in der Nähe des Minenfeldes. Vor und hinter uns stolpern langsam Hunderttausende fliehende Menschen.
Wir laufen. Wir laufen. Wir laufen. Wir laufen an unzähligen toten Menschen vorbei, die nur mit einem Tuch bedeckt sind. Bei jedem Toten schreit und weint mein Vater auf seinem Gaul. Ich renne zu jeder Leiche hin, hebe das Tuch an, um das Gesicht zu sehen, und bete dabei, dass es nicht mein grosser Bruder ist. Ich frage mich die ganze Zeit: Meine Familie, hast du diesen Weg in den Iran überlebt? Den Weg in die Freiheit? Dann regnet es Angst. Ja, die Angst regnet auf dich herab. Wenn Krieg ist, regnet es Angst und Bomben. Was wächst daraus?
Knaben-Morgen-Blüten-Träume. Ich bin schon fast zwanzig. Ich bin Khalid. Im Juli geboren. Von einem normalen Leben träume ich nicht, wenn ich ehrlich bin. In so einer Situation träumst du nur von Gerechtigkeit. Arzt! Architekt! Was haben sie mir nicht alles gesagt und prophezeit im Dorf! Ich bin ein guter Schüler, einer der besten, mit guten Noten und einer glücklichen Stimme beim Morgenlied. Aber seit ich die Augen offen habe, sehe ich die Ungerechtigkeit. Ich habe keine Zeit zu träumen. Ich muss gegen die Ungerechtigkeit kämpfen, die wie ein Schatten überall ihre Kreise zieht. Sie beginnt bei dir selbst, in deiner Familie. Ich spüre, wie sie meine zwei kleinen Schwestern trifft. Sie werden anders, ungerecht behandelt, nur weil sie keine Männer sind. Dagegen wehre ich mich, ich sehe keinen Unterschied! Dann greift die Ungerechtigkeit von deiner Familie auf die Dorfgemeinschaft über, in der man sich als Nachbarn Dinge verspricht, die man nicht hält, und gipfelt im Staat Kurdistan, aus dem unsere ganze Gemeinschaft vertrieben und gleich ausgerottet werden soll.
Oh, Grossmutter! Oh, Vater! Oh, wie er mich liebt, mein Vater, aber er hat keine Zeit, uns seine Liebe zu geben. Es ist Krieg, es fliegen Bomben, keine Vögel. Zeit für die Liebe gibt es nicht. Weiterkämpfen. Ich kämpfe weiter. Ich bleibe Mitglied in sozialen Organisationen und zahle dafür einen Preis. Ich werde verfolgt für mein politisches Engagement. Für meinen Kampf gegen die Unterdrückung werde ich verfolgt und bedroht. Mir wird klar, wenn ich hier bleibe, sterbe ich jung.
Es ist die teure Hilfe von Schleppern, die ich annehmen muss. Vier Mal. Vier Mal versuche ich nach Europa zu kommen, hauptsachlich um mein Leben zu retten, um zu studieren, um eine Zukunft zu haben, ein Leben. Vier Versuche, ein neues Leben zu beginnen. Vier Mal werde ich abgeschoben und zurückgeschickt. Beim fünften Mal – grüezi! – erreiche ich die Schweiz.
- Januar 2008.
Polizeistation in Genf: Eine bleiche Hand reicht mir ein Zugticket und eine Landkarte, mit einem grossen Kreis um ein langes Wort: Vallorbes? Vallorbes, mein neues Zuhause, das Asylzentrum in der Nähe von Genf und Lausanne. Ich fahre los, fahre mit dem Zug durch das schöne fremde Land. Ich weiss nicht, ob ich träume. Ist das jetzt die Realität?
Hier bin ich frei, denke ich und frage mich, ob ich überhaupt weiss, was das heisst: frei zu sein? Frei sein heisst denken und sprechen können. Es ist meine erste Begegnung mit der Freiheit. Ich habe den Krieg hinter mir gelassen und stehe im Asylzentrum, wo man mir ein Formular gibt. Personalitäten: Khalid. Geburtsdatum: irgendwann im Juli. Ha, wenn die wüssten, dass der Geburtsschreiber nur zweimal im Jahr durchwandert. Lieblingshimmelfarbe: Blau. Lieblingsfrau: Grossmutter. Ein einziges Feld lasse ich offen: Religion?
Die Frau fragte mich: «Wieso schribet sie da nöd Muslim here?»
«Weil ich weder an den Islam noch an andere Religionen glaube.»
«Welche Religion haben deine Eltern?»
«Muslime.»
«Dann schreib du auch Muslim.»
«Aber wie geht das? Ich glaube nicht an Religionen.“
«Schau mal: entweder du schreibst hier auch etwas, oder du kommst nicht rein.»
So schreibe ich: auf meinem irakischen Ausweis steht, ich sei Muslim.
Das Einzige, woran ich glaube, ist die Gerechtigkeit. Ich träume von einer guten Welt, von einem Himmel mit vielen Vögeln.
Khalid Ahmad, genannt Ronan, hat diese Geschichte vor Jahren der Schweizer Journalistin Kathrin Hönegger erzählt, die sie für ihn niederschrieb, damit mehr Menschen sie erfahren. Wir freuen uns, dass dies nun endlich geschieht. Ronan Ahmad hat die Aufzeichnungen für diese Veröffentlichung überarbeitet und ergänzt. Wir veröffentlichen diese erste Geschichte zuerst, weil sie so lange gewartet hat und weil sie eine erste Brücke war. Weitere Geschichten und Gedichte, die Ronan Ahmad auf Sorani und auf Deutsch geschrieben hat, werden folgen.