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Die Blase – Auszug 2

Ravindran Pathmanathan
© Yulanie Perumbadage
© Yulanie Perumbadage, Lebensbild, Öl und Kreide auf Leinwand, 180 x 60 cm (2021)

 

Sri-Lanka, 1984-5

Ich ging zu unserem Parteizentrum in Arasadi im Distrikt Jaffna, nicht wissend, dass einige Parteikameraden, sowie manche andere wie Easan und Pandi untergetaucht waren. Da ich niemanden dort antraf, zog ich weiter zu der nächstliegenden Bushaltestelle. Da stand Leo mit einer grossen Reisetasche an der Kodikamam-Haltestelle. Er riss die Augen auf. Aus dem Stegreif reimte er sich eine Geschichte zusammen, dass er wegen Auswärtstätigkeiten bei den Filialen eine Dienstreise nach Wanni zu machen hätte. Ich glaubte ihm aufs Wort – vielleicht lag das an meiner Unschuld oder an meinem Vertrauen zu ihm. Fröhlich wünschte ich ihm eine gute Reise. Gereist war er allerdings ins Ausland. Die Zeit entlarvte im Nachhinein seine Lüge. Im vollen Wissen über die neu entstandene Gefahr innerhalb der Bewegung, die auch uns betraf, hatte er einfach seine eigene Haut gerettet, ohne uns ein Wort zu sagen. Die Enttäuschung zerriss mir das Herz.

In Verkennung der neuen Turbulenzen fuhren mein Parteifreund Yogan und ich wie üblich nach Kokkuvil, etwa 4 km entfernt von der Stadt Jaffna. Das dortige Parteizentrum, von der bewegungseigenen Armee übernommen, war ungewöhnlich voll. Die Szene war irgendwie anders. Yogan und ich drehten das Motorrad langsam um und wollten wegfahren, da versperrte uns einer der Verantwortlichen der Armee den Weg und sagte wie beiläufig: ‚Wegen einiger Ungereimtheiten läuft ein Ermittlungsverfahren gegen Sie beide. Sie werden in dem Zusammenhang zum Verhör kommen müssen.‘ In der Hand hielt er eine Pistole. Yogan stand neben mir mit erhobener Hand, stützte sich gegen einen geparkten weissen Güterwagen. Ich merkte, dass seine Hand zitterte.

‚Kein Problem, Genosse. Für die Freiheit des Landes haben wir auf alles verzichtet und uns der Bewegung angeschlossen. Soweit es uns betrifft, verhalten wir uns gewissenhaft. Falls es auf der Ebene der Bewegung Probleme gibt, müssen sie natürlich geklärt werden, klar. Das verstehen wir völlig. Geben Sie uns Bescheid wann. Wir werden da sein’, sagte ich feierlich.

Ihre Absichten lagen aber woanders. Sie suchten nach Verrätern. Sie liessen uns gehen nach dem Motto: ‘Euch werden wir uns später noch vorknöpfen’. Die von der Bewegung weggelaufenen Genossen und die mit ihnen liierten Parteigenossen wurden als Verräter verurteilt. Als ich mit dem Motorrad losfuhr, sagte ich zu Yogan: ‚Schau dir Kokkuvil zum letzten Mal gut an.’ Wir eilten nach Hause. Alle Hoffnungen hatten sich verflüchtigt. Yogan fuhr ins Ausland. Als er sich verzagt verabschiedete, sagte ich: ‘Leb wohl, Freund. Warum sollen wir beide sterben? Wenigstens du sollst dich retten.’ Ich fühlte mich in dieser lebensbedrohlichen Situation verwaist. Ich versuchte, mich mit einer ausweglosen Zukunft abzufinden. Man könnte denken, ich sei auf den Tod gefasst gewesen. Das stimmt einerseits. Gleichzeitig wollte ich aber auch unbedingt weiterleben.

‘Pass auf dich auf, Alter. Was kann ich sonst sagen?’, sagte Yogan, aber sein übliches Lächeln fehlte. Mit einem Winken verabschiedete ich ihn.

Die Lage in Sri Lanka und die in Indien fühlten sich so weit voneinander an, als würden sie aus zwei verschiedenen Welten stammen. Ich hatte niemanden, mit dem ich meine Gemütslage teilen konnte. Die Parteiloyalität alter Freunde vor Ort überwog nun unsere Beziehung. Mir schien, dass ihr Vertrauen viel mehr der Bewegung als mir galt, und da musste ich durch. Langsam fing ich an, von der Lage in Indien zu erzählen. Krishna und einige andere Freunde trommelte ich zusammen und traf sie im Amman-Tempel und platzte mit der verfluchten Geschichte heraus. Sie waren entsetzt, erschüttert. Vom Schmerz überwältigt, schlug sich Krishna an die Stirn und weinte laut. Er heulte wie ein Kind beim unerwarteten Tod seiner Mutter. Seit seiner Mitgliedschaft in der Bewegung hatte er eigentlich aufgehört zu trinken, aber in späteren Zeiten, als er mich besuchen kam, war er immer betrunken. Irgendwann hiess es, er sei nach Kanada ausgewandert.

Als Ausrede hatte ich meiner Mutter gesagt, dass ich aus Sicherheitsgründen nicht zu Hause in Arasadi schlafen könnte. Ich hatte nicht vor, ihr zu verraten vor wem ich mich schützen musste, da ich sie nicht beunruhigen wollte. Sie war der Annahme, dass ich Schutz vor der Landesarmee brauchte. Während meines sechsmonatigen Aufenthalts in meinem Heimatort verbrachte ich nur ganz wenige Nächte zu Hause. In diesen Nächten würde meine Mutter bis zum Sonnenaufgang schlaflos an meiner Seite sitzen. Während der restlichen Nächte schliefen drei Freunde bei mir. Obwohl sie keine Gefahr von der Bewegung befürchten mussten, wären sie in Schwierigkeit geraten, falls sie zusammen mit mir erwischt worden wären. Trotzdem liessen sie mich nicht alleine herumlaufen, sie begleiteten mich überall. Anfangs verbrachten wir die Nächte in den kleinen Tempeln in der Nachbarstadt, aber die erschienen uns bald nicht mehr sicher. Danach suchten wir uns diverse Gärten aus, die den Friedhof umgaben und schliefen dort in den Wasserbecken. Das war angenehm kühl. Wir gewöhnten uns an den rohen Geruch des Tabakanbaus in der Nähe. Wann immer wir die Hunde bellen hörten, standen wir leise auf und suchten Zuflucht in dem baufälligen Pavillon des naheliegenden Friedhofs. Nachts kam niemand diese Strasse entlang; Dämonen und Gespenster bewachten uns!

Zwar stand das Motorrad von der Bewegung noch bei mir, aber nach Yogans Abreise ins Ausland fuhr ich nicht mehr nach Kokkuvil.

***

Angesichts meiner extrem prekären Sicherheitslage war ich ziemlich aufgewühlt. Eines nachts, als ich unter einem fast kahl beschnittenen, von den Fledermäusen verlassenen Neembaum sass, erschien wie aus heiterem Himmel Castro, ein Parteigenosse.

Ich hob die Brauen und rollte meine Augen vor Überraschung: ‚Ich dachte, du seist verloren gegangen.’

Mit dem Einsetzen des Nieselregens entspannten sich allmählich meine überreizten Nerven. Etwas ging mir durch den Kopf.

‚Ich bin unverwüstlich’, sagte Castro mit einem Augenzwinkern. Wir plauderten auf dem Weg zu ihm nach Hause. Umgeben von einem Garten lag das Haus im Schatten. Die Fenster waren offen und der Ausblick aus ihnen reichte weit in die Ferne und legte die Welt draußen frei. Eine frische Brise wehte konstant herein und durchflutete meine Nerven von Kopf bis Fuss. Es war als hätte Castro das Bild von tausend Blüten in diesen Fensterrahmen gemalt und es mir zu meiner Beruhigung geschenkt. Ich spürte darin das Flattern und Rasseln der Schmetterlinge.

‚Du hast dich anfangs mit grossem Eifer engagiert,’ sagte er, ‚solange es um unsere Erfolge ging. Ist es gerecht, wenn du dich jetzt davonmachst und die Verantwortung für die Niederlagen ablehnst?’

‚Ich bin ausgelaugt, habe jegliches Vertrauen verloren. Einzig und allein geht es mir jetzt um mein Leben. Ich möchte leben, unbedingt leben. Ich hasse den Tod’, sagte ich.

‚Ich doch auch’, sagte er. ‚Du schaffst es aber nicht, alles wie alte Klamotten abzulegen und ziellos vor dich hin zu leben. Ich kenne dich doch zu gut. Es wird dich zermürben.’

***

Das Leben schritt planlos voran. Bavan, ein Kollege von dem Trainingslager in Indien, war nach meinem Heimatort, Arasadi, gekommen.  Als ich ihn sah, musste ich an die Freunde denken, die dort feststeckten. Nach ihnen gefragt, sagte er schlicht, ‚Es geht.’ Er sei zur Erledigung einer Aufgabe hierhergeschickt worden und solle danach zurück.

‚Nochmals zurück?’ fragte ich.

‚Wenn ich’s nicht tue, kriegen die anderen drüben Probleme, verstehst du? Egal, was passiert, mitgefangen, mitgehangen’, sagte er. Was er mit den “anderen” meinte, waren die Übriggebliebenen in unserem Aussenbeziehungslager, inklusive Frauen.

‚Wir Acht haben unsere Flucht geplant und wir brauchen dafür deine Hilfe’, sagte er. Er wollte vor allem Schlaftabletten und etwas Geld. Als armer Schlucker, der sich nicht einmal einen Tee im Teeladen leisten konnte, wandte ich mich an den Theepori-Verein, eine Splittergruppe. Dessen Mitglieder beratschlagten untereinander und rückten schliesslich 600 Rupien heraus.

Schlaftabletten zu besorgen war keine leichte Sache. Meine Befangenheit hinderte mich daran, die im Krankenhaus arbeitenden Dorfbewohner danach zu fragen. Sehr zögerlich ging ich die Mutter von Ithara, einer Parteigenossin, besuchen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich heute meine Äusserung von damals vollkommen auf den Kopf stellen musste. Nach dem ersten Satz ‚Bitte, entschuldigen Sie mich, Amma’, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen, meine Ellbogen waren auf meine Schenkel gestützt. Ich fing an zu weinen. Die Worte, die ich meiner Mutter nicht hatte offenbaren können und die nun von tief unten in mir herausplatzen wollten, verwandelten sich in Tränen. Die gütige Frau kam auf mich zu, streichelte mir den Kopf und schwieg.

Damals hatte ich ihr zu verstehen gegeben, dass Ithara als aktives Bewegungsmitglied zwar unerreichbar war, aber eines Tages zurückkommen würde. Mit der Zeit war die Mutter mit ihrem Schmerz zurechtgekommen. Jetzt musste ich ihr die Hoffnung nehmen und die Aussichtslosigkeit der Situation schildern.

Ich erzählte. Ich stellte alles auf den Kopf und erzählte. Eigentlich fehlte mir der Mut, den Kopf zu heben und sie anzusehen. Ich tat es aber dann doch. Sie kämpfte sichtlich gegen ihre bislang unterdrückten Gefühle.

Ich hätte sie nicht besuchen sollen, dachte ich. Sie verliess das Haus und kam zurück mit zwei Dosen Schlaftabletten. Diesmal kam sie nicht bis zur Tür, um mich zu verabschieden. Niedergedrückt sass sie da auf ihrem Stuhl.

Am nächsten Tag traf ich Bavan wieder und händigte ihm das Geld und die Schlaftabletten aus. ‚Sei bitte vorsichtig’, sagte ich und verabschiedete mich von ihm.

‚Solange wir nicht geflohen sind, komm bloss nicht auf die Idee mit Ausland und so’, sagte er und ging weg.

***

Um diese Zeit war auch Anbu aus Indien zurückgekehrt. Auch seine Geschichten waren von Angst und Hoffnungslosigkeit geprägt. Die meiste Zeit trafen wir uns in der Dorfbibliothek. Wir sprachen kaum mit den anderen und sie missdeuteten unser Schweigen. Das machte es uns nur einfacher, das Reden mit ihnen zu vermeiden.

Anbu spielte mit dem Gedanken, sich eine Weile in Mumbai aufzuhalten. Derartige Pläne hegte ich nicht. Ausserdem gab es noch keine Nachricht von Bavan, der nach Indien gereist war. Da Anbu mich jedoch nicht alleine zurücklassen wollte, erfand er jedes Mal eine andere Ausrede, um der Einladung seines in Mumbai lebenden Bruders auszuweichen. Die meiste Zeit verbrachten wir in der Dorfbibliothek, die sich am Schnittpunkt von vier Strassen befand. Wenn man auf den Wurzeln des davorstehenden Banyanbaums sass, hatte man alle vier Strassen gut im Blick.

Eines Tages, als wir einen Staub aufwirbelnden Geländewagen erkannten, flüchteten wir sicherheitshalber schnell in das benachbarte Tabakfeld, das nur eine kleine Strasse vom Banyanbaum trennte. Wir kauerten im Gebüsch, dicht an die Jungpflanzen geschmiegt. In der Annahme, dass der Geländewagen inzwischen weg sein dürfte, kamen wir nach einer Weile aus dem Versteck heraus. Wir gingen zu einem Tempel nebenan und setzten uns auf einen Karren, der dort stand. Anrani kam angeradelt. Wir ahnten nichts Gutes. Die Wörter purzelten nur so aus ihm heraus. ‚Die Typen haben mich mitgenommen, um ihnen den Weg zu zeigen. Die sind aus Achuveli gekommen, sind bewaffnet. Jemand vor Ort in der Nähe der Bibliothek hat ihnen den Tipp gegeben, dass ihr vielleicht hier zu finden seid und dann den Typen auch noch sein Fahrrad geliehen. Ich habe schnell angeboten, nach euch zu schauen und das Fahrrad an mich gerissen. Wenn die gekommen wären, na dann gute Nacht, wisst ihr doch. Ich gehe mal zurück und sage, ihr seid nicht hier. Schaut, dass ihr wegkommt”, stiess er ohne Punkt und Komma hervor.

***

Jetzt waren wir beide ziemlich beunruhigt. Uns wurde klar, lange konnten wir nicht mehr hierbleiben. Niedergeschlagen und völlig verzagt gestand ich meiner Mutter nun die ganze Wahrheit. Sie stand unter Schock und wirkte noch verängstigter als ich. ‚Ich muss ins Ausland, Amma, weiss nur nicht wie’, sagte ich. ‚Sicher musst du weg’, sagte sie und weinte sich die Seele aus dem Leib. Mit Ach und Krach kratzten wir das Geld zusammen, flohen nach Colombo und tauchten unter. Meine Schwester und die Mutter von Anbu halfen uns. Meine Schwester gab ihre Hochzeitskette her und Anbus Mutter ihre Ohrringe und Armreifen.

In einem Getreidesack verstauten wir kleine Taschen mit unseren Habseligkeiten, wir nahmen unsere Waffen und etwas Geld und fuhren mit dem Vereinsmotorrad zum Kodikamam-Bahnhof. Dort händigten wir einem Genossen der Linkspartei die Sachen aus und begaben uns auf die Reise. Wir hatten beschlossen, zuerst zu Anbus Bruder nach Mumbai zu fahren.

***

Unwiderruflich kam der Tag an, an dem wir uns von der Heimaterde trennen mussten. Ich hatte es mir durchaus nicht einfach gemacht, wie wenn man den Staub vom Hintern abklopft. Selbsterhaltung allein machte es unausweichlich. Der Gedanke, dass ich dieses Leben geschenkt bekommen habe, prägte sich tief in meinem Herzen ein.

Während unseres Aufenthalts in Mumbai leitete Anbus Bruder die Vorbereitungen für unsere Auslandsreise in die Wege. Ein Monat war bereits vergangen, aber der Agent hatte keinen Finger krumm gemacht, um die Sache voranzutreiben.

Seinen Einfluss bei der Bewegung nutzend setzte Selva, ein finanzieller Unterstützter der Bewegung, den Agenten indessen unter Druck. Und schon fand der Mann den nötigen Stempel für unseren Visumsantrag unter den vielen, die er hinter dem Gottesbild versteckt hielt. Im Handumdrehen war der Job erledigt. Auch Devan, ein einflussreicher Parteigenosse, der dem Leiter nahestand, kam zum Mumbaier Flughafen, um uns zu verabschieden. Wir wollten in die Freiheit fliegen, weil wir mit dem üblen Kurswechsel der Bewegung nicht mehr einverstanden waren, während Devan sich immer noch an diesen Weg festhielt. Unsere Haltungen waren jetzt Welten voneinander entfernt.

Das Flugzeug hob ab.

Menschen wurden zu Ameisen und verschwanden. Ortschaften wurden unsichtbar. Landesgrenzen verblassten. Das Grün der Wälder und das Blau des Meers verliehen der Erde einen besonderen Reiz. Die Dichterfantasie beflügelnde Wolkengebilde überall. Wir flogen über den Wolken statt wie sonst zu ihnen aufzublicken. Leichtgrau erschienen sie mit ihren vielen Türmchen in dieser weißen Wüste von rauchähnlichen Schwaden. Auch durch sie hindurch versuchte ich zu suchen. Die Träume, die ich geträumt hatte, waren unauffindbar, so wie Mali, meine stille Liebe. Ich sehnte mich danach, wie eine Feder oben auf den sanften Wolkenkissen zu liegen, die ein einziger geheimer Hauch der Luft verstreuen könnte.

 

[1] An manchen Stellen weicht die Übersetzung vom Original ab, um das Verständnis der Leser:innen zu erleichtern. (Anmerkung der Übersetzerin)

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