Die Blase
Auszug aus einem Roman
Ein grosser Stein liegt an der Bergkante am Ende eines Ortes, den man Dreieggli nennt. Für mich markiert dieser steile Hang nicht das Ende der Welt. Die Brise, die hier über das Grün weht, überträgt meinem Lebensatem vielmehr die Botschaft, dass sich die Welt hier für mich ausbreitet. Als ich dort sass, entdeckte ich, dass die Talsenke, die unter meinen Füssen bis an den nächsten Berggipfel heranreichte, aussah wie ein grün ausgebreitetes Tragetuch einer Mutter. In dem Tuch schlummerte ein blauer See. Zwischen den Baumgruppen und in den Falten der uns umgebenden Bergen zogen die Wolken. Ich wurde wieder zum Kind, das sich an den wechselnden Farben ergötzte, die von den Wolken immer wieder ausradiert und neu gemalt wurden.
Immer wenn ich den Berg und seine Farben - gleichermassen bezaubernd in allen Jahreszeiten – ansah, lösten sich meine Trauer und meine Verzweiflung langsam auf. Der Berg verlieh meiner Einsamkeit einen Sinn. Im Winter konnte ich schemenhafte Figuren in den Schneemassen ausmachen. Wann immer die Sonne schien, verwandelten Heerzüge von Sonnenstrahlen die Winterlandschaft in eine Skulpturenhalle. Die Herbstkünstler gestalteten die Bäume als bunte Gemälde. Der Sommer schüttete sattes Grün aus, auf dem fleissige Kühe im Takt der grossen, an ihren Hälsen baumelnden Glocken weideten. Im Frühling tropften Farben aus den Pinseln der umherirrenden, bunten Wolkenscharen. Abends schenkten die von den Sonnenstrahlen zerstückelten Bergstreifen gelbe Wärme. Sanft strich eine kühle Brise über meinen Körper. Entzückt von alldem sass ich alleine auf dem Felsen. Das Dorf lernte mich als einen «Schwarzen Mann», den einzigen Tamilen kennen. Die Einsamkeit, die ich suchte, sorgte dafür, dass sich die Frage gar nicht stellte, ob die Dörfler mich mochten oder nicht, einen Rassisten traf ich dort nie.
Als ich kürzlich nach langer Zeit diesen Ort, der mich zu mir selbst zurückgeführt hatte, wieder einmal besuchte, überfielen mich die Erinnerungen. Das Ferienheim, in dem ich damals gearbeitet hatte, sah jetzt verwahrlost aus. Ich hatte grosse Lust hineinzugehen, traute mich jedoch nicht. Innen war niemand zu sehen. Ich stand auf dem Parkplatz des Zentrums. Es lag auf dem Weg, der am Dreieggli endete. In den Wintermonaten kam es früher manchmal vor, dass die parkenden Autos hier über Nacht völlig zugeschneit wurden und der Platz am nächsten Morgen wie eine weiße Wüste auf Schneehügeln aussah. Ich mochte den Anblick und fing ganz entspannt an, den Schnee zu fegen. Meinem jungen Körper machte diese anstrengende Arbeit damals nichts aus.
Doch jetzt war Frühling, ein Morgen. Ich konnte das Gebäude nicht aus den Augen lassen, der Erinnerungsschmerz überkam mich; auch das Haus gegenüber hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Ringsum herrschte Stille.
Ich ging zu dem Haus, in dem die Frau, die ich liebevoll ‚Mama‘ genannt hatte, wohnte, wenn sie denn noch lebte. Nach siebenundzwanzig Jahren tauchte ich dort wieder auf. Dasselbe Haus. Ihr Garten hatte an Schönheit eingebüsst. Ich klingelte, die Tür öffnete sich vorsichtig. Ich war angespannt, aber die Überraschung war angenehm. Sie war alt geworden, aber sie lebte. Ihr Sehvermögen hatte sich verschlechtert. Ich lächelte fröhlich und begrüsste sie: „Kennen Sie mich noch?“
Mit einem etwas erstaunten Blick antwortete sie: „Nein.“
Doch die Unsicherheit dauerte nur einen Moment lang, denn sobald ich meinen Namen nannte, strahlte sie freudig überrascht, umarmte mich herzlich und wurde sofort wieder zu „meiner Mutter“, wie damals. Sie nahm mich an die Hand und führte mich hinein.
„Das nächste Mal: Ruf vorher an, hörst du?“, sagte sie.
„Ich bin ohne Vorankündigung gekommen, weil ich Sie überraschen wollte. Von jetzt an sage ich immer vorher Bescheid“, sagte ich.
***
1983
Ende Juli. Sri Lanka war wieder einmal zerrissen, verstrickt in seinen ethnischen Konflikt. Der Flughafen Ratmalana war in ein Flüchtlingslager verwandelt worden, in dem Tausende von Flüchtlingen untergebracht waren. Unsere Gruppe, wir waren fünfundfünfzig Menschen, belegte eine Ecke. Betten und unsere Habseligkeiten hatten das Stück Lager zu unserem Zuhause gemacht. Von unserer Universität Moratuwa waren wir heil dorthin transportiert worden. Wir konnten uns von den vielen Aufgaben, die wir dort verrichten mussten, kaum ausruhen. Der Gedanke, dass wir eine lebensbedrohliche Situation hinter uns gebracht hatten, besiegte jegliche Müdigkeit.
Es war, glaube ich, der 24. Juli. Die Abschlussprüfungen meines zweiten Studienjahres waren an dem Tag zu Ende gegangen, doch die Rauchwolken, die wir in einiger Entfernung aufsteigen sahen, machten all unsere Freude auf die bevorstehende Heimreise zunichte. Der Abend war durchdrungen von Angst, Zweifel und Aufregung. Fast alle singhalesischen Studenten hatten den Campus verlassen. Dass wir allein gelassen waren, wurde uns erst klar, als eine Gruppe von singhalesischen Studenten kam, um uns beizustehen. Sie waren Mitglieder der JVP[1] unter der Leitung von Rohana Wijeweera. Sie brachten uns Essenspakete.
„Soweit es in unserer Macht steht, werden wir euch schützen“, sagten sie.
Wir wohnten in einem Wohnheim auf dem Campus, an dessen Rand ein dichter Wald lag. Sie rieten uns, nach hinten in den Wald flüchten, falls sie nicht länger in der Lage sein würden, uns zu helfen. Trotz der räumlichen Nähe war der Wald uns fremd. Niemals hatten wir ihn betreten, nicht einmal bis zu seinem Rand waren wir je gekommen. Jetzt sollte er uns Schutz bieten und machte uns doch gleichzeitig grosse Angst. Die Nacht verstrich nur schleppend. Bei gelöschten Lichtern schauten wir unentwegt aus dem Fenster. Gruppenweise standen wir in unseren Zimmern. An Schlaf war nicht zu denken. Mit Knüppeln in der Hand hielten die singhalesischen Kommilitonen bis zum Tagesanbruch Wache.
Am nächsten Tag kamen sie wieder mit Essenspaketen. „Es ist sehr fraglich, ob wir euch weiterhin beschützen können. Die Strassen sind voll von Menschenmassen. Sie sind bewaffnet und gefährlich, sie brüllen und toben. Wir haben mit dem Campusleiter geredet. Die Polizei wird kommen und euch zum Flughafen Ratmalana bringen“, sagten sie.
Sofort wussten wir, dass es um Leben und Tod ging. Wir wurden in fünf oder sechs Polizeiwagen und anderen Fahrzeugen zusammengepfercht, dann fuhren die Autos vorsichtig durch das Campustor. Auf den Strassen schnellten Stöcke und Messer in die Höhe, begleitet von lautem Geschrei. Vorsichtig lenkten die Polizisten die Wagen an der Menge vorbei.
Dann standen wir am Flughafen. Eine grosse Leere erfasste uns. Wir erinnerten uns an unseren Vorlesungssaal und dachten an Guru, einen Architekturstudenten im letzten Studienjahr. Er sah aus wie ein Charakter aus einem Film von Balachander, der mit banalen philosophischen Sprüchen nur so um sich warf. An allen vier Wänden waren Skizzen eines Hochhauses angebracht, das er gerade entwarf und das den Stoff seiner Prüfung bildete. Während der Prüfung nahm der Dozent namens Nimal seine Entwürfe unter die Lupe und bombardierte ihn mit Fragen. Jede einzelne Frage musste richtig beantwortet werden. Mit aller Macht kämpfte Guru dafür, dass sein inständiger Wunsch, Architekt zu werden, nicht zerschlagen würde. Als er an einem Punkt ins Straucheln geriet, fauchte Nimal: „Warum musst du ausgerechnet Architekt werden wollen? Lerne doch einfach, wie man Bomben legt.“ Die singhalesischen Studenten brachen ins Lachen aus. Wir schwiegen.
Wir erinnerten uns auch an Senivaratna, einen anderen Typen unseres Jahrgangs. Er war gesellig, aber gleichzeitig blitzte auch seine rassistische singhalesische Überheblichkeit zwischen seinen spöttischen Sprüchen hervor. Einmal kam er auf uns zu und klapperte laut mit einer Blechdose, die mit Steinen gefüllt war. Wir unterhielten uns gerade, und zwar auf Tamil. Als wir ihn auf Singhalesisch fragten: „He! Was machst du da?“, sagte er den Klang der tamilischen Sprache parodierend: „Was wohl? Ich versuche mit euch Tamil zu reden.“
Die Zeit in Ratmalana trieb all diese Erinnerungen hervor, die uns das Herz zuschnürten, und so verging sie quälend langsam. Nach einigen Wochen verschiffte das Rote Kreuz uns Flüchtlinge nach Kankesanturai. Wir fuhren mit dem letzten Schiff. Zu Beginn unserer Reise hatten wir bereits Velmurugan und drei andere Kommilitonen verloren.
Velmurugan kam aus meinem Dorf. Sein Vater, Sir Somasundaram, war Schulleiter. Velmurugan hatte die Abschlussprüfung im Fach Ingenieurwesen abgelegt. Als er gehört hatte, dass die Ausschreitungen nachgelassen hätten und es nun kein Problem mehr in Colombo gäbe, hatte er sich mit drei weiteren Studenten ein Taxi genommen und war von Ratmalana in das Stadtviertel Wellawatte zu Verwandten gefahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Wir wollten sie abhalten, rieten ihnen dringend davon ab, in diesen unsicheren Zeiten zu fahren, aber sie taten es trotzdem.
Wie hätte ich Herrn Somasundaram erzählen sollen, dass die vier vor einer Kirche im benachbarten Viertel Dehiwala ermordet wurden? Meine Beschwichtigungen „Er wird schon kommen, einige werden noch vermisst“ klangen bei jedem seiner vielen Besuche abgedroschener und hohler. Irgendwann kam er nicht mehr. Dann begann die Phase, in der ich jedes Mal, wenn ich ihn auf der Strasse sah, mein Fahrrad umdrehte und die Flucht ergriff.
Er wurde wunderlich. Vor sich hin plappernd irrte er auf den Strassen umher. Wenn er mich sah, fing er an zu schreien: „He, wo ist mein Sohn? Ihr seid doch lebendig zurückgekommen. Wo ist mein Sohn, du?“ Das höfliche Siezen war dem ‚He du‘ gewichen. Sein Zustand und sein Aussehen zehrten an meinen Kräften. Velmurugan war imponierend gross gewesen. Stets mit einem Lächeln ging er leichten Schrittes, der ‚brave Junge‘. Herr Somasundaram hatte sechzehn Jahre lang im Gebet verharrt, bevor Velmurugan endlich geboren wurde. Kein Wunder, dass er jetzt so niedergeschmettert war. Wann immer ich mit dem Rad unterwegs war, konnte ich nicht umhin, nach ihm Ausschau zu halten, da ich ihm einfach nicht mehr ins Gesicht sehen konnte.
Ich hielt an meinem Entschluss fest, nie wieder den Campus Moratuwa zu betreten. Später erfuhr ich, dass das Zimmer mit unseren Büchern und den Skizzenrollen, auf denen unsere Namen standen, in Brand gesetzt worden war. Ehrlich gesagt, hatte ich die Skizzen nicht zusammengerollt, ich hatte sie einfach nur hingeschmissen. In meinem Inneren existierte seither ein Er, der sich geschworen hatte, dass er keinen Fuss mehr auf das Unigelände setzen würde. In späteren Jahren wuchs dieser Er unter den Fittichen einer Untergrundgruppe auf, die nach einem separaten Staat für Tamil*innen strebte, und wurde ein Kämpfer.
[1] People’s Liberation Front, eine marxistisch-leninistische Nationalpartei (A. d. Ü.).