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Wiesawie

Jafar Sael
© Layali Alawad, Ohne Titel, Tinte auf Papier (2020)

Es bewegt sich langsam.

Gegenüber der Schildkröte auf der anderen Seite der Strasse an der roten Ampel stehen Menschen, die auf das grüne Signal der Ampel warten. Vor sich sehen sie eine Schildkröte, die sich ungeduldig an der roten Ampel bewegt und rasch die Strasse überqueren will, um dringend etwas zu erledigen. Eigentlich hat sie heute verschlafen und so musste sie auf ihre Morgentoilette verzichten. Von ihrem Kaffee hatte sie auch nur einen Schluck genommen, er war zu heiss. Sie hat sich ihre Lippen verbrannt. Mit einem lauten „Scheisse!“ hat sie die Wohnung verlassen. Heute ist sie mit nichts einverstanden. Auch nicht damit, dass sie sich gestern Nacht gewünscht hatte, dass die Uhr auf ihre Geschwindigkeit eingestellt werden sollte. Ihr Wunsch war nämlich in Erfüllung gegangen, sie merkte es aber nicht. Die Schildkröte murmelte, schimpfte und mit ihren angeknacksten Nerven wollte sie jeden beissen, der ihr nahekam.

Die Schildkröte, die an der roten Ampel warten musste, sah die Schuld in den Menschen, die wiesawie auf der anderen Strassenseite an der Ampel standen. Sie wusste nicht, wer sie waren, was sie taten und wieso sie an der roten Ampel aufs grüne Signal warteten. Vor allem hat sie sich gefragt: Wieso habe ich diese Menschen bis jetzt nicht gesehen? Ich gehe doch die Strasse jeden Tag entlang. Ihr war nicht klar, dass sie zu einem Kreis gehören, in dem die Menschen mehr Geduld haben müssen als sie. Für die Schildkröte war an anderen Tagen alles normal. Sie musste nur heute an der roten Ampel warten. Was sie auch nicht wusste: Diese Menschen werden in Schubladen eingefügt. Und sie dürfen sich manchmal nur in einem bestimmten Kreis bewegen.

In solchen Schubladen herrschen Hoffnung und Täuschung. Über die Täuschung kann man noch positiv denken. Die Hoffnung aber schrumpft immerfort. Und die ständig schrumpfende Hoffnung wird immer kleiner. Man spürt, wie sich eine graue Grenze um die Schublade bildet. Und der Rahmen der Schublade wird sichtbarer. So sichtbar, dass man ihn anfassen könnte. Der Rahmen prägt die Psyche und verankert sich im Gedächtnis. In der Schublade hat die Stunde bestimmt keine 60 Minuten. Der Tag ist nicht normal, der Tag hat keinen Anfang und kein Ende. Der Monat hängt in der Luft und viele Monate verschwinden in der Luft.

Die Menschen, die gegenüber der Schildkröte an der roten Ampel stehen, sehen die ungepflegte, verschlafene Schildkröte und beobachten ihre Unruhe. Das Warten an der roten Ampel gegenüber der Schildkröte bringt den Nullpunkt auf den Punkt.

Nullpunkt oder Punkt, beides bedeutet Warten. Jedes auf seine Art und Weise. Der Nullpunkt bezieht sich auf diejenigen, die in den Schubladen sind, und der Punkt bezieht sich auf die verschlafene Schildkröte mit ihren angeknacksten Nerven. In beiden drängt die Zeit.

Inzwischen ist das Signal der Ampel von Grün auf Gelb gesprungen und der verschlafenen Schildkröte ist ein lautes „Scheisse“ herausgerutscht.

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