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Sordan Kalem – Roter Stift

Suzan Samanci
Moderne Malerei, rotes Gesicht auf grauem Hintergrund
© BAHZAD SULAIMAN, "Tiredness or perhaps misery"
Acryl auf Leinwand (2016)

Das Wort Stift lässt mich zwar an absolutes Schreiben und Macht denken, doch einige Wörter, die wie Kletten an mir hängen, werde ich einfach nicht los. Stellt man sich sein Dasein anhand von Wörtern vor, ist der Stift das einzige Werkzeug, das diesem Dasein Dauer verleiht. „Sordan Kalem!“ - der Stift von Rot. „Sor“ bedeutet auf Kurdisch „rot“, korrekt müsste es [auf Kurdisch] „Qelema sor“ heißen, wer aber gerade erst Türkisch lernt, hängt das türkische Suffix „dan“ (von) an und bringt damit ein linguistisches Drama zum Ausdruck. Der Rotstift Marke Faber war der König aller Stifte, raffiniert malten wir uns mit ihm die Lippen an, weil Mutters Lippenstifte unerreichbar für uns waren. Diese Zeilen schrieb ich zunächst mit Kugelschreiber, nun aber tanzen meine Finger auf der Klaviatur Halay. Der Computer macht zwar vieles leichter, doch die Wärme, die Echtheit des Stiftes vermisse ich bei ihm. Der Ausdruck „Sordan Kalem“ flattert in meiner kindlichen Fantasie, ich will gar nicht, dass die Erinnerungen aufhören, mein Herz zu belasten: Schmerz hält lebendig, macht stark, taut sanft mein Herz auf, mir wird warm.

Die Sumerer erfanden die Keilschrift, die Chinesen die Ideografie, die Mayas die Hieroglyphenschrift. Womit schrieb Konfuzius, als er sich gegen die Fürsten von Lu auflehnte? Und waren dem Herodot von Halikarnassos, dem Protagoras von Abdera und dem Sokrates nicht Stifte ihr Mund? Nietzsche sagte: „Ich bin nicht der Mund für diese Ohren“; Schriftsteller, die nicht der Stift für Münder sein wollen, sind einzigartig. Als ich mich in der frühen Jugend fragte, warum ein guter Gott Furchtbares und Ungerechtes geschehen lässt, wuchsen mir die Stifte ans Herz. Ich nahm Zuflucht zu den Büchern und war überzeugt, der Stift würde das Fundament dieser Zuflucht auffüllen. Diese Überzeugung bietet Harmonie und Erhabenheit und ebnet den Weg zur Freiheit zweifellos umso gründlicher. Wer den Stift wahrhaft liebt, weiß um das Anderssein des Anderen und akzeptiert es.

Gerüche haben ja auch ein Land, eine Stadt und Wörter. Wie Modergeruch Sterblichkeit evoziert, ist der schönste Duft, der an Bildung denken lässt, der eines Holzbleistifts. Alles hängt zusammen wie die Glieder einer Kette. Während unsere Finger, Steine, Tontafeln, Inschriften und Papyrus miteinander verknüpft sind, denken wir, wenn es um früher geht, an einen Federkiel. Ich finde, Stifte mit aufrechter, viktorianischer Haltung gleichen Paris, Rom und Großbritannien, während auf der Türkei-Karte der Stifte der Füllfederhalter für Istanbul, der Kugelschreiber für Ankara und der Bleistift für Diyarbakır stehen. Der Füller ist urban, schreibt atemlos, ist erwachsen. Der Kugelschreiber ist chaotisch, geschwätzig, labil, emsig und versteht sich auf seinen Job. Der Bleistift ist provinziell, loyal und zuverlässig, aber auch rebellisch. Eckige Buntstifte sind wie der Regenbogen, sind frei, tolerant, universal und bergen alle möglichen Gerüche.

Als die feigen Männer mit den Grabesfüßen sich wie ein finsterer Nebel über unsere Stadt senkten, als Schüsse durch unsere Nächte hallten, klammerte ich mich an meinen Stift. Er machte mir Mut im Düster der Nacht, in ihrer Sehnsucht, ihren Ängsten. Die Namen der Verschwundenen und der auf immer von uns Gegangenen flüsterte ich meinen Stiften zu und versuchte in Zeiten, da die Straßen verlassen lagen und die Türen zu Stahltüren wurden, meine Verzweiflung mit dem Sammeln bunter Stifte zu überwinden. Mit den Schweizer Buntstiften in meiner Stiftebox unterstrich ich sorgfältig Absätze in den Büchern, die ich las. Während ich die durchdringende, kritisch hinterfragende Gewalt des Schmerzes in meiner Brust verdrängte, mutierten die Stifte zu durch die Luft fliegenden Raketen.

Als meine beiden Töchter in die Schule kamen, war ich viel aufgeregter als sie. Statt der Holzbleistifte mit Radiergummi meiner Kindheit wimmelte es nur so vor Glitzerstiften, Textmarkern und allen möglichen Kugelschreibern, Füller kamen nur in der Schönschrift-Stunde zum Einsatz. In den sechziger Jahren hingegen hatten wir Tintenfass und Zirkel und mühten uns mit dem Schreiben ab. Tauchte ich den Pelikan-Füller in die Tinte, wurden meine Finger jedes Mal zu Stempeln.

Machte mein Vater seine Notizen mit seinem Scrikss mit der abgeschrägten Feder, bewunderte ich seine Schrift und wie gut er mit dem Federhalter umging. Jedes Wort, jeder Geruch erinnert an so vieles, das uns im Gedächtnis blieb. Ich muss unbedingt eine kleine Anekdote im Zusammenhang mit einem Füller erzählen. 1999 nahm ich an dem Podiumsgespräch „Frau sein und schreiben“ der Women’s Works Library teil. Zu den Teilnehmerinnen gehörte auch die Schriftstellerin İnci Aral, gesprächshalber erwähnte sie, sie interessiere sich für unsere Region und käme gern, wenn man sie einladen würde. Als ich kurz darauf eine Einladung nach Mardin erhielt, gab ich dort Bescheid. Unser Gespräch fand unter Polizeibeobachtung bei der Gewerkschaft Eğitim Sen statt, wir wurden permanent überwacht. Das Trauma jener Jahre wird sicher noch verstärkt in Romanen und Filmen behandelt werden. Als wir unsere Bücher signierten, spürten wir die Repression im Nacken. Eine pensionierte Lehrerin trat zu mir und sagte: „Es tut mir weh, den schlichten Kugelschreiber in Ihrer Hand zu sehen, İnci Hanım hat so einen schönen Federhalter, wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gern meinen Füller schenken, den ich dreißig Jahre lang benutzt habe.“ Ich war verblüfft, warf einen Blick auf meinen Kuli, dessen Mine fast leer war, er gehörte zu denen, die man wegwarf, wenn sie leer waren. Zutiefst gerührt nahm ich den karminroten Scrikss-Füller an und sagte: „Ich bewahre ihn als Andenken auf.“

Schwarzer Stift: ein strenger Richter, der den Finger schüttelt; Rosa: ein flippiges junges Mädchen; Blau: ein spleeniger Jugendlicher, denke ich und schrecke auf! Mein inneres Ich kichert. Gelb: eine feinsinnige Frau; Rot: ein Schürzenjäger; Lila: eine vor Courage überschäumende Intellektuelle; Braun: ein wahrer Intellektueller, der nicht angibt; Grün: ein Weltreisender aus Nahost; Orange: eine universale Tänzerin; Grau: eine politische Stimme; Weiß: Unendlichkeit, die ich nicht benennen kann …

Manchmal, wenn ich glaube, auf der Stelle zu treten, oder wenn es wehtut, dass meine Hoffnungen zerbröseln, kühle ich meine Wut an der Druckhülse von Kugelschreibern, wenn Sinnlosigkeit oder Einsamkeit an mir nagt und ich den Kuli zwischen zwei Fingern kreisen lasse, wird mein Handteller zu einem Feld blauer Pünktchen. Steigt das Barometer meiner Qual und zerbricht die Druckhülse mir unter den Händen, erschrecke ich, dieses Geräusch: klick klick klick …

Werden Intellektuelle zum Symbol der Hoffnung und Ängste der Gesellschaft, steht der Stift in gewisser Hinsicht symbolisch für Hoffnung und Angst. In Momenten, da sich absolute Stille über mein Zimmer senkt und die Dinge sich in Nichts verwandeln, wispern die bunten Stifte vom Schreiben. Liege ich mit meinem Dasein über Kreuz, bedroht mein Dasein mich, klammere ich mich umso stärker an meine bunten Stifte. Meine bunten Stifte lassen mich davon träumen, ich selbst zu sein, mich selbst zu finden und mich mit der Loslösung von mir vor dem Schicksal zu retten, zu mir selbst zurückzukehren. Und wenn ich schreibe, wenn meine Unbehaustheit, meine Ort- und Heimatlosigkeit, nach meinem Herzen greifen, greife ich meist unwillkürlich zum lila Stift, denn Lila bedeutet endlich Furchtlosigkeit, Mut.

  1. Februar 2014

Hotel Comédie

Genf

* Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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