Weiter Schreiben -
Der Newsletter

So vielstimmig ist die Gegenwartsliteratur.
Abonnieren Sie unseren Weiter Schreiben-Newsletter, und wir schicken Ihnen
die neuesten Texte unserer Autor*innen.

Newsletter abonnieren
Nein danke
Logo Weiter Schreiben
Menu
Suche
Weiter Schreiben Schweiz ist
ein Projekt von artlink
Fr | It
Logo Weiter Schreiben
Menu

Nicht Normal

Lubna Abou Kheir
© Adel Dauood,ohne Titel, Acryl auf Leinwand (2017)
© Adel Dauood, ohne Titel, Acryl auf Leinwand (2017)

1

Da alles, worauf ihre Augen fallen, die absolute Wahrheit ist, steckt sie ihren Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, was draussen vor sich geht. Für sie ist das Draussen nicht nur die Nachbarschaft oder die Strasse. Für sie ist das Draussen buchstäblich alles. Das Draussen ist alles ausserhalb ihres Alphabets.

Er schaut aus dem Fenster. Für ihn ist das Aussen das Draussen in seinem einfachen und klaren Sinn. Es ist die Strasse und das Viertel, zu dem es gehört. Das Draussen ist sein Ort, das Draussen und das Drinnen: alles seins.

Für sie hat alles und jedes einen Sinn, den Sinn, den sie in ihr Verständnis des Lebens legt, und keinen anderen.

Für ihn ist alles in Ordnung, alles ist ok, nichts hat eine Bedeutung über den Namen hinaus, den es trägt. Nur manchmal bricht er aus seiner Ruhe aus – wie ein grosses weisses Gemälde, auf dem plötzlich mittendrin ein einzelner schwarzer Punkt oder farbige Punkte erscheinen … Genau, sonst ist da nichts, woran zu denken sich lohnt. Für ihn.

Sie steckt den Kopf aus dem Fenster und sieht auf der Strasse nicht weit entfernt: ein Polizeiauto, zwei Polizisten, zwei blonde Männer und einen Schwarzen. Die beiden Polizisten reden mit dem Schwarzen und schreiben auf, was er sagt, die beiden Blonden stehen weit entfernt und warten neben dem Auto. In dieser Szene ist die Polizei dem Schwarzen Mann näher als den beiden blonden Männern.
Tausend Dämonen der Wut reiten sie und sie sagt zu sich selbst: «Sogar die Luft, die wir atmen, ist rassistisch. Wenn die Luft selbst uns den Hahn abdrehen könnte, würde sie es tun.» Sie zieht sich an und geht hinaus.

Er schaut mit dem Kopf aus dem Fenster auf die Strasse und aus seinem Blickwinkel und aus nächster Nähe sieht er: ein Polizeiauto, zwei Polizisten, zwei blonde Männer und einen Schwarzen. Während die beiden Polizisten mit dem Schwarzen sprechen und aufschreiben, was er sagt, stehen die beiden blonden Männer in der Nähe und warten neben dem Polizeiauto. In dieser Szene steht die Polizei mittendrin, nicht in der Nähe von irgendjemandem. Er ist völlig ruhig, diese Szene sagt ihm nichts, ausser dass es ein Problem gibt, an dessen Lösung die Polizei arbeitet. Er zieht sich an und geht hinaus.

2

Sie ist eine sehr Elegante, hat eine bewusst übertriebene Eleganz in allem, in der Sprache, im Verhalten. Ihre Eleganz berührt schon die Eitelkeit. «Ich muss nicht normal sein, ich bin in allem anders. Nichts sollte normal sein, normal ist die Dummheit selbst», sagt sie sich jeden Tag.

Er ist auf gewöhnliche Art elegant, mit Hosen, einem Hemd, einem normalen Mantel und festen Schuhen für alle Jahreszeiten. Alle seine Kleider sind teuer, aber sie sind gewöhnlich. Prunk und Zurschaustellung (Parade) braucht es nicht, denn er gehört einer Gesellschaft an, die materielle Zurschaustellung nicht respektiert: «Es reicht, dass wir zum Fluch des Geldes und des Luxus verdammt sind. Normal ist die beste Lösung. Neutralität in allem ist gut», sagt er sich, wenn er jemanden zum ersten Mal treffen will.

Das Date, auf das sie sich vorbereitet hat, kommt, nachdem sie auf dem Weg zum Café, das zehn Minuten von ihrem Haus entfernt ist, mit dem Geräusch ihrer Schuhe einen unermesslichen Lärm verursacht hat. Die Luft wird durch ihre Bewegung aufgeladener, sie geht selbstbewusst, andere können sie nicht ignorieren, sie geht nicht unbemerkt, und das ist normal, weil sie nicht normal ist. Sie ist überrascht von der Pracht des Cafés.

Er kommt leise im Café an, sein Weg dauert zehn Minuten, er kommt an und sitzt normal, es gibt nichts zu erwähnen.

3

Sie zeigt mit dem Finger auf ihn: «Du, ähh …»

Er: «Ja …» Er erhebt sich und bedeutet ihr mit seiner Hand, sich zu setzen: «Bitte!»

Sie: «Es ist heiss, obwohl es November ist.»

Er: «Nicht heiss, aber mild. Es sollte längst kalt sein.»

Sie: «Mir ist heiss, also ist es (das Wetter) heiss.»

Er: «Heiss ist ein Wort für den Sommer, nicht für den Winter.»

Sie: «Das ist nicht wichtig. Formen sind nicht wichtig. Wichtiger ist das Gefühl, mein Gefühl bestimmt, was ich zu sagen habe. Mild ist kein schönes Wort, ,mild … meh‘. Ich rede nicht gerne wie ein Roboter, Ursache-Wirkungs-Aktion, sehr langweilig … sehr. Der Winter ist heiss.»

Er: «Dieser Winter ist heiss. Sei genauer, damit jeder, der dich hört, versteht, was du meinst! Hallo.»

Sie: «Hallo.»

Er: «Sollen wir Kaffee bestellen?»

Sie: «Nein … Das ist normal.»

Er: «Was ist normal?»

Sie: «Kaffeetrinken ist normal.»

Er: «Du meinst gewöhnlich… Du meinst normalerweise.»

Sie: «Ich meine nicht, dass es gewöhnlich ist, Kaffeetrinken ist normal, und normal ist sehr langweilig.»

Er: «Wie lange lebst du schon in dieser Stadt?»

Sie: «Was hat das mit Kaffee zu tun?»

Er: «Gut. Vielleicht können wir jetzt weitersprechen?»

Sie: «Was denn? Wir haben noch nicht einmal angefangen, bis jetzt ist alles normal.»

Er: «Der logische Ablauf des Gesprächs. Das Konzept ist jetzt besser.»

Sie: «Das ist die Langeweile von Ursache und Wirkung, von der ich gesprochen habe.»

Er: «Mmm, gut … Du magst also den Stuhl, wie ich verstanden habe.»

Sie: «Ja, der gefällt mir, also bin ich zu dir gekommen.»

Er: «Welche Beziehung habe ich zu dem Stuhl? Wenn dir der Stuhl gefällt, warum bist du dann zu mir gekommen?»

Sie: «Du hast ihn zum Verkauf angeboten.»

Er: «Du hättest ihn per Post bestellen können.»

Sie: «Ich suche die Kommunikation genau wie du.»

Er: «Vielleicht. Kaffee ist also nicht nötig.»

Sie: «Was hat dich an dem Wort Kommunikation gestört? Oder hat dich gestört, dass du bist wie ich?»

Er: «Mir hat es nicht gefallen und nichts hat mich gestört, ich möchte keinen Kaffee, ich möchte mich mit dir über den Stuhl einigen und dann möchte ich gehen.»

Sie: «Aber du hast ihn über eine Social-Media-Plattform zum Verkauf angeboten.»

Er: «Ich respektiere, dass du Gedanken lesen kannst, aber du liest sie eben falsch.»

Sie: «Es gibt keine feste Norm für richtig und falsch.»

Er: «Letzte Frage: Wie lange lebst du schon hier?»

Sie: «Ja, ich möchte Kaffee trinken.»

Er: «Du kamst vor Kurzem, Fremde taumeln … ein ständiger Versuch, sich in allem zu beweisen, grelles Verhalten.»

Kein Kommentar.

(fragt nach Kaffee)

Er: «Geniessen Sie Ihre Zeit … Tschüss.»

Leise verlässt er das Café. Das Polizeiauto mit den beiden blonden Männern darin fährt leise vorbei, der Schwarze betritt leise das Café, nickt ihr zu und setzt sich neben sie an einen Tisch und sagt, nachdem er seinen Mantel ausgezogen hat: «Dieser Winter ist seltsam und heiss.» Dann atmet er tief.

 

– #Al_Hassake_MädchenLesen
– Alternative PsychotherapieLesenبديلُ علاج نفسي

Datenschutzerklärung