Von Peter Stamm
Immer wenn ich Schriftstellerinnen oder Schriftsteller aus politisch unstabilen Gegenden traf, aus der Türkei, aus Kolumbien, aus Ägypten, dem Iran, aus Kuba, stellte ich ihnen früher oder später dieselbe Frage: Wollt ihr nicht einfach über eure Literatur, über Literatur im Allgemeinen sprechen und nicht immer nur über die Zustände in euren Ländern? Denn bei all eurem politischen Engagement, bei all den Sorgen, die ihr euch um die Zukunft eurer Länder und eurer Landsleute macht, ihr seid doch vor allem Menschen, die schreiben. Und Literatur kann viel mehr, als Meinungen und Statements zu verbreiten. Vielleicht muss sich Literatur sogar, um wirklich politisch sein zu können, zuallererst von der Politik befreien. Und alle sagten, ja. Und wir redeten über Texte, über Bücher.
Als ich Ronan Ahmad dieselbe Frage stellte, schien er sie erst gar nicht zu verstehen. Bei ihm kam die Politik vor der Literatur, die Politik machte ihn erst zum Literaten. Die ersten Texte, die er schrieb, waren politische Slogans, nachdem die Regierung von Saddam Hussein seines und viele andere Dörfer zerstört und die Familie vertrieben hatte. Sie verloren damals alles, ihr Haus, ihr Vieh, ihre Habe, und wurden umgesiedelt an einen Ort ohne Geschichte.
Die Politik hat Ronan zum Schreiben angetrieben und die Politik lässt ihn auch heute nicht los, auch wenn er betont, dass er kein Politiker sei, sondern ein Aktivist. Politik beeinflusse alles, sagt er, nachdem er eben von einer Reise nach Kurdistan zurückgekommen ist. Denn auch wenn er seit dreizehn Jahren in der Schweiz lebt, seine Themen liegen in seiner Heimat. Ronan will einen Roman schreiben, in dem es um die missglückte Revolution geht, um die Peschmerga, die ihre Ideale aufgegeben und eine Kleptokratie geschaffen haben. Um die Situation der Frauen und Kinder in seiner Heimat. Er will die Menschen dazu bringen, Fragen zu stellen und sich nicht mit der Situation abzufinden, wie viele es täten. Das wissen auch die Behörden in Kurdistan, die ihn bei seiner Reise schikanierten, ihn an der Grenze stoppten, warten liessen. Aber zu schweigen ist für Ronan keine Option. Das erzählt er lachend. Ronan ist nicht verbissen, nur überzeugt und voller Kampfgeist.
Ronan gibt es erst seit vier Jahren. Davor hiess er Khalid und so heisst er für seine Familie noch heute. Aber Khalid ist ein arabischer Name, Ronan ein kurdischer, Khalid bedeutet unendlich oder unsterblich, Ronan etwas Gutes darstellen. Und welcher der beiden schreibt?, frage ich ihn. Ronan oder Khalid? Ronan schreibt, aber Khalid erinnert sich. An Krieg und Vertreibung, an die langen Jahre der Flucht, in denen er über die Türkei und Bulgarien nach Tschechien und schliesslich in die Schweiz gelangte. Schon während der Flucht habe er geschrieben, erzählt Ronan, sein Laptop wurde ihm in Prag gestohlen, aber das Heft mit seinen Aufzeichnungen habe er immer noch.
Ronan will seinen Roman auf Deutsch und auf Kurdisch schreiben. Es wäre dasselbe Buch und doch wären es zwei verschiedene, die Menschen hier würden es zwangsläufig anders verstehen als jene in Kurdistan, die darin ihre eigene Geschichte lesen würden. Kurdische Verlage arbeiten anders als jene in Deutschland oder der Schweiz, Ronan müsste den Druck seines Buches dort wohl selbst finanzieren. Aber es geht ihm nicht darum, mit dem Roman Geld zu verdienen, er will seinen Landsleuten die Augen öffnen für ihre Situation.
Wir sitzen in einem Restaurant beim Bahnhof Stadelhofen, umgeben von Geschäftsleuten, Touristen, Shoppern. Ich frage Ronan, was er von seiner Reise aus Kurdistan zurückgebracht hat. Gewürze, traditionelle Kleider, Bücher. Und neue Eindrücke von einem Land in der Krise, das sehr weit weg zu sein scheint an diesem sonnigen Herbstnachmittag und doch viel näher ist, als wir glauben möchten.